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L. TnojE:
liche^, verlor das sinnlich Wahrnehmhare, das irdisch Körperliche
an Geitung. Auf jene göttliche Geistigkeit, mit dernichts Irdisches
vergleichbar war, die man mystisch auffaßte als eine andere höhere
Xatur, richtete sich die Sehnsucht des Menschen. Er schämte sich
seiner Körperlichkeit, er empfand auch die ihm zuteil gewordene
Geistigkeit als eine nur minderwertige, er begehrte nach einem
Anteil an jener höheren Natur. Hier setzt die religiöse Spekulation
im Hellenismus ein. Nach Maßgabe des Begriffs Natur stellt man
sich die Möglic.hkeit eines solchen Anteils vor als durch mystische
Umwandlung des menschlichen Wesens erreichbar oder als durch
eine geheimnisvolle angestammte Beziehung zur Gottheit gegeben.
Jahrhunderte lang hat dieses Problem das gesamte religiöse Denken
beschäftigt. Freilich, die Skala der Vorsteilungen, die man sich
von der ersehnten gottähnlichcn Existenz machte, war der Ver-
schiedenheit der Bildungsstufen gemäß groß, die Mittel und
Wege, die man ersann, um ihrer teilhaftig zu werden, variierten
außerordentlich, das Streben selbst aber war überall das gleiche:
durch alle Mysterienreligionen und Geheimlehren der Zeit, durch
alle in schwindelnde Höhen der Phantasie erricliteten Systeme der
Gnostiker und der Neuplatoniker, durch alles niedere Zauberwesen
geht derselbe erdenfremde Drangnach dem einzigwünschenswerten
Ziel des Lebens: nach Vergottung. Llnd wiederum ist es die Tradi-
tion über den Uranfang, im besonderen die Erschaffung des Men-
schen, aus der man mit Vorliebe den Berechtigungsnachweis einer
solchen Hoffnung zu erbringen suchtL
^ Eine starke Gegenströmung hat daneben zwar irnrner an der Körper-
lichkeit Gottes festgehalten (das judenchristliche Grundbuch der Klemen-
tinen, die Excerpta ex Theodoto bei Clemens v. Aiexandria, Melito, Tertui-
lian), nur mit dem Vorbehalt etwa, daß die Sichtbai'keit Gottes nicht für
irdische Augen gelte; auch hat die Gnosis und die Yoikstümiiche Literatur
die ,,Geistigkeit" Gottes vielfach als mystisch unsichtbare Körperlichkeit
verstanden und dementsprechend die ,,geistige" Anteiieriangung am gött-
lichen Wesen bedeutend reaier gemeint, ais nach jetziger Auffassung des
Wortes zuiässig wäre. Zu den sich hier auswirkenden Gegensätzen zwischen
Kirche und Sonderlehre (resp. A'olksmeinungj vgl. R. REiTZEXSTEix, RTsm-
ria dioimcAoi'Mm M/?.// ΤΤΜίοτΜΜ LMMsiaco, jEJMe VtM///e zM.r GescAicAte <ies
itiÖMcAtMMis unc/ c/e/' //'M/ic/?/'Ltü'cAeM. Reg/-///e G/iost/A*e/' u/n/ -Pz/eMn/atZ/feT',
Göttingen 1916. S. 118.
^ Als Typus soicher, die göttliche Abstammung des Menschen verkün-
dender Schöpfungslehren ist etwa die orphische Theogonie anzusehen, nach
weicher in jedem Menschen ein Teilchen des Gottes Dionysos weiterlebt,
denn aus der Asche dei' vernichteten Titanen, die den Dionysos verschlungen
hatten, ist die Menschheit entstanden; RonDE, Psyc/zc^ II S. 103ff.
L. TnojE:
liche^, verlor das sinnlich Wahrnehmhare, das irdisch Körperliche
an Geitung. Auf jene göttliche Geistigkeit, mit dernichts Irdisches
vergleichbar war, die man mystisch auffaßte als eine andere höhere
Xatur, richtete sich die Sehnsucht des Menschen. Er schämte sich
seiner Körperlichkeit, er empfand auch die ihm zuteil gewordene
Geistigkeit als eine nur minderwertige, er begehrte nach einem
Anteil an jener höheren Natur. Hier setzt die religiöse Spekulation
im Hellenismus ein. Nach Maßgabe des Begriffs Natur stellt man
sich die Möglic.hkeit eines solchen Anteils vor als durch mystische
Umwandlung des menschlichen Wesens erreichbar oder als durch
eine geheimnisvolle angestammte Beziehung zur Gottheit gegeben.
Jahrhunderte lang hat dieses Problem das gesamte religiöse Denken
beschäftigt. Freilich, die Skala der Vorsteilungen, die man sich
von der ersehnten gottähnlichcn Existenz machte, war der Ver-
schiedenheit der Bildungsstufen gemäß groß, die Mittel und
Wege, die man ersann, um ihrer teilhaftig zu werden, variierten
außerordentlich, das Streben selbst aber war überall das gleiche:
durch alle Mysterienreligionen und Geheimlehren der Zeit, durch
alle in schwindelnde Höhen der Phantasie erricliteten Systeme der
Gnostiker und der Neuplatoniker, durch alles niedere Zauberwesen
geht derselbe erdenfremde Drangnach dem einzigwünschenswerten
Ziel des Lebens: nach Vergottung. Llnd wiederum ist es die Tradi-
tion über den Uranfang, im besonderen die Erschaffung des Men-
schen, aus der man mit Vorliebe den Berechtigungsnachweis einer
solchen Hoffnung zu erbringen suchtL
^ Eine starke Gegenströmung hat daneben zwar irnrner an der Körper-
lichkeit Gottes festgehalten (das judenchristliche Grundbuch der Klemen-
tinen, die Excerpta ex Theodoto bei Clemens v. Aiexandria, Melito, Tertui-
lian), nur mit dem Vorbehalt etwa, daß die Sichtbai'keit Gottes nicht für
irdische Augen gelte; auch hat die Gnosis und die Yoikstümiiche Literatur
die ,,Geistigkeit" Gottes vielfach als mystisch unsichtbare Körperlichkeit
verstanden und dementsprechend die ,,geistige" Anteiieriangung am gött-
lichen Wesen bedeutend reaier gemeint, ais nach jetziger Auffassung des
Wortes zuiässig wäre. Zu den sich hier auswirkenden Gegensätzen zwischen
Kirche und Sonderlehre (resp. A'olksmeinungj vgl. R. REiTZEXSTEix, RTsm-
ria dioimcAoi'Mm M/?.// ΤΤΜίοτΜΜ LMMsiaco, jEJMe VtM///e zM.r GescAicAte <ies
itiÖMcAtMMis unc/ c/e/' //'M/ic/?/'Ltü'cAeM. Reg/-///e G/iost/A*e/' u/n/ -Pz/eMn/atZ/feT',
Göttingen 1916. S. 118.
^ Als Typus soicher, die göttliche Abstammung des Menschen verkün-
dender Schöpfungslehren ist etwa die orphische Theogonie anzusehen, nach
weicher in jedem Menschen ein Teilchen des Gottes Dionysos weiterlebt,
denn aus der Asche dei' vernichteten Titanen, die den Dionysos verschlungen
hatten, ist die Menschheit entstanden; RonDE, Psyc/zc^ II S. 103ff.