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Reitzenstein, Richard; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1917, 10. Abhandlung): Die Göttin Psyche in der hellenistischen und frühchristlichen Literatur — Heidelberg, 1917

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https://doi.org/10.11588/diglit.37643#0106
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106

R. Reitzen stein :

alte orientalische Mythos zur Liebesgeschichte, zur Novelle, ja
wenn man will, zum Roman oder doch zu etwas, was als Vorstufe
des Romans gelten kann. Aber unter dieser Annahme und Be-
schränkung ist der Roman keine 'literarische Ungeheuerlichkeit’
mehr, wie ich meinerseits Helms Konstruktion sonst bezeichnen
müßte1. Die menschliche Ausgestaltung des Göttermythos ist
gerade für die frühhellenistische Zeit charakteristisch, und in der
Historie und dem Mythos entwickelt sich allmählich der Roman.
Man empfindet, daß es den Dichter lockte darzustehen, wie das
kindhafte Mädchen in den Wonnen und mehr noch in den Leiden
der Liebe voll zum Weibe wird. Daß diese Dichtung dabei doch
religiöse Wirkung übt und daß sich auf diesem Boden, dem klassi-
schen Boden des Unsterblichkeitsglaubens, die Jenseitshoffnungen
der hellenischen und hellenisierten Kreise gern an sie knüpfen,
kann kaum befremden: zwei mächtige religiöse Kräfte, die orien-
talische und die im Griechentum immer noch lebendige, haben
sich in ihr verbunden. Sie war doch ein religiöses Kunstwerk.
Die vielleicht vier Jahrhunderte spätere Erzählung des Apu-
leius ist das gewiß nicht mehr; sie ist weder ein Kunstwerk, noch
religiös, sondern gehört, wie sie jetzt ist, zur Unterhaltungsliteratur
leichterer Art, wenn auch ein Empfinden für die ursprüngliche
Bedeutung dem Verfasser geblieben und zu allen Zeiten in empfäng-
lichen Lesern auch wach geworden ist. Wieviel Mittelglieder
zwischen ihr und jener ersten hellenistischen Dichtung hegen, ist
gar nicht zu sagen. Schwerlich wird Apuleius der erste gewesen
sein, der das Bedürfnis empfand, die menschlichen und realistischen
Züge zu steigern und sich in der Mischung verschiedener Elemente,
auch des burlesken, dem sinkenden Geschmack der Zeit anzu-
passen. Dieselbe Umformung zeigt ja die bildende Kunst, die
allmählich in der Darstellung beider Götter zu den gedrungenen,
plumpen Formen der koptischen Kunst niedergleitet. Unsere
Archäologen scheinen freilich ein feineres Empfinden für den
ursprünglichen Charakter und die allmähliche Anpassung und
Umbildung eines Kunstwerkes zu haben als die Philologen. Mir
war es eine Freude bei dieser Musterung später und z. T. wunder-

1 Das ist mit geringfügiger Änderung dasselbe, was ich in dem Büchlein
Das Märchen von Eros und Psyche S. 27 ff. behauptet habe. Auf Helms Miß-
verständnisse gehe ich nicht mehr ein. Den Begriff des Romans betone ich
selbst so wenig wie früher den Begriff Märchen.
 
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