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Reitzenstein, Richard; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1917, 10. Abhandlung): Die Göttin Psyche in der hellenistischen und frühchristlichen Literatur — Heidelberg, 1917

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https://doi.org/10.11588/diglit.37643#0110
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110

R. Reitzen stein :

Gott wieder erscheint und sie emporführt (Valentinianer, Naassener,
die κοσμοποιία) zur himmlischen Hochzeit (Valentinianer, Apuleius).
Gerade wenn wir die valentinianische Lehre, die ja den besten
Anhalt für die Rekonstruktion bietet, mit der ersten Benutzung
des Mythos durch den griechischen Dichter-Philosophen vergleichen,
empfinden wir die Änderung des Geistes in der Übernahme: hier
freie Umdichtung und Hellenisierung, dort ängstliches Haften an
einer Tradition, die nur mit anderem kombiniert wird, etwa wie
in der Κόρη κόσμου. Dem Griechen sind die orientalischen Tradi-
tionen jetzt Offenbarungen geworden. Die Rohheiten einzel-
ner Züge werden nicht mehr beseitigt, sondern durch die mystische
Deutung annehmbar gemacht. Es war ein Fehler Heinricis, daß er
in seinem feinsinnigen Aufsatz 'Zur Geschichte der Psyche’ (Preuß.
Jahrbücher 1897 Bd.90,390) die Zeiten zu wenig schied und sich von
der schriftstellerischen Persönlichkeit eines Apuleius kein Bild zu
machen wußte. So konnte er ihm als 'Platoniker’ viel zuviel zu-
schreiben1. Aber daß er auf die Ähnlichkeit der Psyche-Novelle und
der valentinianischen Lehre2 hin wies, freilich ohne sie erklären zu
können, bleibt ein unbestrittenes Verdienst. Die Mängel seiner
Arbeit, die überwiegend auf philologischem Gebiet liegen, dürfen
die Anerkennung nicht beeinträchtigen, daß er ein religiöses Fein-
empfinden dabei bewiesen hat, das den gleichzeitigen und späteren
philologischen Bearbeitern abging.
Das Ende einer langen, oft beschwerlichen Wanderung ist
erreicht, und eine weite, freilich noch von Nebelschleiern vielfach
verhüllte Fernsicht erschließt sich uns. Für unsere Kenntnis des
1 Eine wirklich schöpferische Kraft tritt uns in der ganzen Epoche doch
erst in Plotin (und ähnlich noch in Origenes) entgegen. Aber sein Versuch,
vom Boden des echten Hellenentums aus dem Sehnen der Zeit auch zu ge-
nügen, hat nur kurze Dauer; er verdiente den Namen Neuplatonismus wirk-
lich, nicht aber die vorausliegende Mischung orientalischer Tradition und
griechischer Begriffe. Die in mancher Hinsicht ja berechtigte Yordatierung
der neuplatonischen Bewegung bis zu dem Erwachen religiöser Bedürfnisse
im ersten Jahrhundert v. Chr. birgt jedenfalls die Gefahr von Mißverständ-
nissen und falschen Bewertungen in sich, die schließlich dazu führen müßten,
in Plotins Gegnern, jenem Adelphius und Aquilinus, die eigentlichen Neupla-
toniker oder 'Platoniker’ zu sehen.
2 Sie ist tatsächlich so groß und, seit wir wissen, daß Valentins Vorlage
von einer Göttin Psyche sprach, so zwingend, daß alle Ähnlichkeiten, welche
die motivsuchende Märchenforschung bisher nachgewiesen hat, dagegen
vollkommen verschwinden — wenigstens wenn man die Fassungen nicht
berücksichtigt, die einfach literarische Nachbildungen des Apuleius geben.
 
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