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Franz Rosenzweig:
kennbar, nebeneinander. Schellings materielles System hat sich
nie geändert; er ist nie Natur-, Kunst-, Religionsphilosoph „ge-
worden“, — wenn damit mehr gemeint sein sollte als dies: daß er
längst klar gehegte Absichten in der betreffenden Lebensepoche
zuerst breit ausgeführt habe. Er ist im Materiellen der Systematik
nicht der regellos nach äußerem Anlaß neue Gestalten annehmende
„Proteus“, sondern eher der „Hermes“ des Idealismus, das Wunder-
kind, das, kaum geboren, sich aus den Windeln befreit und die
mannigfaltigen Kräfte seines göttlichen Diebs-, Erfinders- und Vir-
tuosenwesens gleichzeitig in einer kecken Tat offenbart. Die Ent-
wicklung ist hier ein schrittweises Hervortreten dessen, was schon
zu Anfang in der Knospe eingefaltet beisammen lag, — Evolution,
nicht Epigenese.
Und dennoch war es auch Epigenese. An keinem Punkt zeigt
sich das Programm so eindeutig seiner Entstehungszeit verhaftet,
wie im Formellen des metaphysischen Hauptgedankens: daß die
ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt. Er wird wie eine
Selbstverständlichkeit behandelt. Das System ist „das System
aller Ideen oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate“;
bezüglich der Kunst ist einmal vom „höchsten Akt der Vernunft“
die Rede, was gut zu dem System aller Ideen paßt — Vernunft
ist ja bei Kant „das Vermögen der Ideen“ und Schelling wandelte
damals diese Kantische Definition nur insofern, als er die „Ein-
bildungskraft“, also den „ästhetischen Sinn“, „im Dienste der
Vernunft“ die Ideen erzeugen läßt. Das ist also ganz im Sinne
des Programms. Aber gerade in diesem metaphysischen Träger-
gedanken spielt sich nun in den folgenden Jahren, nein Jahr-
zehnten, der „sachlich-notwendige innere Prozeß“ ab, den Otto
Braun als das hinter allen äußeren Beeinflussungen Stehende bei
allen Wendungen des Schellingschen Denkerlebens anerkennt und
dessen wesentlich logische Beschaffenheit für die Jahre 1795—1801
aufgedeckt zu haben, das vielleicht größte Verdienst der Metzger-
schen Arbeit ist. Es ist nicht Sache der vorliegenden Studie,
diesen Prozeß, bei dem schon bald nach 1796 von der logisch-
metaphysischen Grundlage des Programms so gut wie nichts mehr
geblieben ist, hier zu schildern. Selbst wenn ich es wollte, würde
ich es nicht können; trotz Metzgers und Brauns Büchern ist hier
noch sehr viel zu tun. Noch bedarf der systematische Charakter
des Systems des transzendentalen Idealismus und sein Verhältnis
zum Identitätssystem einer gründlichen Erhellung, und dasselbe
Franz Rosenzweig:
kennbar, nebeneinander. Schellings materielles System hat sich
nie geändert; er ist nie Natur-, Kunst-, Religionsphilosoph „ge-
worden“, — wenn damit mehr gemeint sein sollte als dies: daß er
längst klar gehegte Absichten in der betreffenden Lebensepoche
zuerst breit ausgeführt habe. Er ist im Materiellen der Systematik
nicht der regellos nach äußerem Anlaß neue Gestalten annehmende
„Proteus“, sondern eher der „Hermes“ des Idealismus, das Wunder-
kind, das, kaum geboren, sich aus den Windeln befreit und die
mannigfaltigen Kräfte seines göttlichen Diebs-, Erfinders- und Vir-
tuosenwesens gleichzeitig in einer kecken Tat offenbart. Die Ent-
wicklung ist hier ein schrittweises Hervortreten dessen, was schon
zu Anfang in der Knospe eingefaltet beisammen lag, — Evolution,
nicht Epigenese.
Und dennoch war es auch Epigenese. An keinem Punkt zeigt
sich das Programm so eindeutig seiner Entstehungszeit verhaftet,
wie im Formellen des metaphysischen Hauptgedankens: daß die
ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt. Er wird wie eine
Selbstverständlichkeit behandelt. Das System ist „das System
aller Ideen oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate“;
bezüglich der Kunst ist einmal vom „höchsten Akt der Vernunft“
die Rede, was gut zu dem System aller Ideen paßt — Vernunft
ist ja bei Kant „das Vermögen der Ideen“ und Schelling wandelte
damals diese Kantische Definition nur insofern, als er die „Ein-
bildungskraft“, also den „ästhetischen Sinn“, „im Dienste der
Vernunft“ die Ideen erzeugen läßt. Das ist also ganz im Sinne
des Programms. Aber gerade in diesem metaphysischen Träger-
gedanken spielt sich nun in den folgenden Jahren, nein Jahr-
zehnten, der „sachlich-notwendige innere Prozeß“ ab, den Otto
Braun als das hinter allen äußeren Beeinflussungen Stehende bei
allen Wendungen des Schellingschen Denkerlebens anerkennt und
dessen wesentlich logische Beschaffenheit für die Jahre 1795—1801
aufgedeckt zu haben, das vielleicht größte Verdienst der Metzger-
schen Arbeit ist. Es ist nicht Sache der vorliegenden Studie,
diesen Prozeß, bei dem schon bald nach 1796 von der logisch-
metaphysischen Grundlage des Programms so gut wie nichts mehr
geblieben ist, hier zu schildern. Selbst wenn ich es wollte, würde
ich es nicht können; trotz Metzgers und Brauns Büchern ist hier
noch sehr viel zu tun. Noch bedarf der systematische Charakter
des Systems des transzendentalen Idealismus und sein Verhältnis
zum Identitätssystem einer gründlichen Erhellung, und dasselbe