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Franz Rosenzweig:
zukünftiges Reich mit einem Blick überschaute. Er hat nie jene
innere Sicherheit des letzten Standpunkts gewonnen, die ihn be-
fähigt haben würde, das beanspruchte Erbe ganz in Besitz zu
nehmen; er ist sein Leben lang Prätendent geblieben, oder, um
den zuvor gewagten Vergleich fortzusetzen: das Wunderkind, das,
alles versprechend, vieles haltend, doch nie zu der letzten resoluten
Einfachheit des Mannes kommt, sondern in einem gewissen Sinne
sein Leben lang bleibt, was es zu Anfang war: ein geniales Kind.
VII.
Das Blatt, das wir untersuchen, ist von Hegels Hand ge-
schrieben. Hegel hat im Sommer 1796 Schellings Systempro-
gramm gekannt. Die Gedanken, die er frühestens im Mai, späte-
stens im Juli niederschrieb und selber äußerlich als Fortsetzung
an die Arbeit anfügte, die ihn mit Unterbrechungen mindestens
schon seit dem Herbst des vorigen Jahres bis mindestens in den
Mai hinein beschäftigt hatte, könnten möglicherweise schon unter
dem Eindruck des Schellingschen Programms entstanden sein.
Die große Arbeit hatte das Werden des ursprünglich mit der „Ver-
nunftreligion“ identischen Christentums zu einer „positiven Reli-
gion“ zu erklären gesucht; die im Sommer angeschlossenen Blätter
nahmen ältere, schon in Tübingen von Hegel umkreiste Probleme
aus Gibbons Hand von neuem und diesmal als historische auf:
wie konnte das Christentum die heidnische „Phantasiereligion“
verdrängen. Eben diesen Begriff der „Phantasiereligion“ führt
Hegel damals nun zu Anfang des Stückes so aus, daß man zunächst
unwillkürlich an den Schlußabsatz des Schellingschen Programms
erinnert wird: auch er klagt, daß „die Phantasie der gebildeten
Teile der Nation von der der gemeinen Stände ein völlig anderes
Gebiet hat, und Schriftsteller und Künstler, die für jene arbeiten,
von diesen schlechterdings, auch in Ansehung der Szene und der
Personen, ganz und gar nicht verstanden werden“ — ganz anders
als im alten Athen und selbst im heutigen England mit Shakespeare;
auch Hegel glaubt, daß in den Resten von eigener „Mythologie“
— er findet sie im Gespensterglauben — wenigstens eine Möglich-
keit liege „die Empfindungsweise und Phantasie des Volkes zu
veredeln“’. Aber sieht man näher zu, so zerstreut sich die Ähnlich-
keit. Schon der Grundbegriff einer „politischen Phantasie“, mit
dem Hegel hier arbeitet, hat keine Beziehungen zu Schelling, der
im Programm der neuen mythologischen Phantasie eine viel weit-
Franz Rosenzweig:
zukünftiges Reich mit einem Blick überschaute. Er hat nie jene
innere Sicherheit des letzten Standpunkts gewonnen, die ihn be-
fähigt haben würde, das beanspruchte Erbe ganz in Besitz zu
nehmen; er ist sein Leben lang Prätendent geblieben, oder, um
den zuvor gewagten Vergleich fortzusetzen: das Wunderkind, das,
alles versprechend, vieles haltend, doch nie zu der letzten resoluten
Einfachheit des Mannes kommt, sondern in einem gewissen Sinne
sein Leben lang bleibt, was es zu Anfang war: ein geniales Kind.
VII.
Das Blatt, das wir untersuchen, ist von Hegels Hand ge-
schrieben. Hegel hat im Sommer 1796 Schellings Systempro-
gramm gekannt. Die Gedanken, die er frühestens im Mai, späte-
stens im Juli niederschrieb und selber äußerlich als Fortsetzung
an die Arbeit anfügte, die ihn mit Unterbrechungen mindestens
schon seit dem Herbst des vorigen Jahres bis mindestens in den
Mai hinein beschäftigt hatte, könnten möglicherweise schon unter
dem Eindruck des Schellingschen Programms entstanden sein.
Die große Arbeit hatte das Werden des ursprünglich mit der „Ver-
nunftreligion“ identischen Christentums zu einer „positiven Reli-
gion“ zu erklären gesucht; die im Sommer angeschlossenen Blätter
nahmen ältere, schon in Tübingen von Hegel umkreiste Probleme
aus Gibbons Hand von neuem und diesmal als historische auf:
wie konnte das Christentum die heidnische „Phantasiereligion“
verdrängen. Eben diesen Begriff der „Phantasiereligion“ führt
Hegel damals nun zu Anfang des Stückes so aus, daß man zunächst
unwillkürlich an den Schlußabsatz des Schellingschen Programms
erinnert wird: auch er klagt, daß „die Phantasie der gebildeten
Teile der Nation von der der gemeinen Stände ein völlig anderes
Gebiet hat, und Schriftsteller und Künstler, die für jene arbeiten,
von diesen schlechterdings, auch in Ansehung der Szene und der
Personen, ganz und gar nicht verstanden werden“ — ganz anders
als im alten Athen und selbst im heutigen England mit Shakespeare;
auch Hegel glaubt, daß in den Resten von eigener „Mythologie“
— er findet sie im Gespensterglauben — wenigstens eine Möglich-
keit liege „die Empfindungsweise und Phantasie des Volkes zu
veredeln“’. Aber sieht man näher zu, so zerstreut sich die Ähnlich-
keit. Schon der Grundbegriff einer „politischen Phantasie“, mit
dem Hegel hier arbeitet, hat keine Beziehungen zu Schelling, der
im Programm der neuen mythologischen Phantasie eine viel weit-