I. Das Diatessaron und seine Bedeutung tür die Textkritik der Evangelien. 5
gedehnteren Maß heranzuziehen und sie sorgfältiger auszunutzen.
Aber selbst dieses Lob bedarf noch der Einschränkung.
Der neueste Herausgeber des Neuen Testaments, Hermann
v. Soden, dem „die Gunst zuteil geworden ist, das gesamte Hand-
schriftenmaterial, soweit es entdeckt und zugänglich ist, herbei-
ziehen zu können“6), meinte auf Grund ausgedehnter Verglei-
chungen die Textgeschichte in ihren wesentlichen Zügen aufge-
hellt und die Kritik auf sichere Wege geführt zu haben. Danach
laufen drei Textformen nebeneinander her, alle drei derselben
Zeit, der Wende des 4. Jahrhunderts, entstammend. Die eine, in
Alexandria entstanden, geht auf einen sonst unbekannten Pres-
byter Hesychius zurück - v. Soden nennt sie II —; die andere
(I bei v. Soden) rührt von dem 309 unter Diocletian als Märtyrer
gestorbenen Pamphilus her, der als begeisterter Schüler des
Origenes in Caesarea in Palästina wirkte. Die dritte endlich, die
später fast unbeschränkte Herrschaft gewann, weil sie in Kon-
stantinopel als offizieller Text gebraucht wurde, ist in Antiochia
durch einen in derselben Verfolgung 312 gestorbenen Märtyrer
Lukian hergestellt (K bei v. Soden). Zwar ist keine dieser Re-
zensionen in einer Handschrift rein überliefert. Aber v. Soden
meinte doch, auf Grund der noch erkennbaren Eigentümlichkeiten
jede von ihnen sicher ermitteln zu können. Indem er die näher
verwandten Textformen II und I bevorzugte, war er der Über-
zeugung, daß der von ihm hergestellte „authentische“ Text sich
kaum von dem im 3. Jahrhundert durch Origenes in Alexandrien
und Caesarea und durch Tertullian in Karthago gebrauchten unter-
scheide. Damit .wäre das von Lachmann der Textkritik gesteckte
Ziel weit überboten. An Stelle eines Textes vom Ende des 4. Jahr-
hunderts wären wir nun in der überaus erfreulichen Lage, einen
Text zu lesen, wie ihn die Christenheit des Abendlandes und des
Morgendlandes am Anfang des 3. Jahrhunderts besaß'. Zwischen
diesem Text und den Urschriften, wie sie aus den Händen der
Verfasser hervorgegangen waren, läge immerhin noch eine ziem-
lich große Spanne Zeit; aber diese Spanne wäre doch auf vier
Menschenalter zusammengeschrumpft.
Eine genauere Prüfung lehrt freilich, daß. diese Meinung
v. Südens eine Selbsttäuschung gewesen ist. Einen Text, der
genau übereinstimmend in Karthago und Caesarea gelesen wurde,
hat es weder um 220 noch später gegeben, konnte es auch nicht
u) Griechisches N. T., Text mit kurzem Apparat, 1913, S. XXI.
gedehnteren Maß heranzuziehen und sie sorgfältiger auszunutzen.
Aber selbst dieses Lob bedarf noch der Einschränkung.
Der neueste Herausgeber des Neuen Testaments, Hermann
v. Soden, dem „die Gunst zuteil geworden ist, das gesamte Hand-
schriftenmaterial, soweit es entdeckt und zugänglich ist, herbei-
ziehen zu können“6), meinte auf Grund ausgedehnter Verglei-
chungen die Textgeschichte in ihren wesentlichen Zügen aufge-
hellt und die Kritik auf sichere Wege geführt zu haben. Danach
laufen drei Textformen nebeneinander her, alle drei derselben
Zeit, der Wende des 4. Jahrhunderts, entstammend. Die eine, in
Alexandria entstanden, geht auf einen sonst unbekannten Pres-
byter Hesychius zurück - v. Soden nennt sie II —; die andere
(I bei v. Soden) rührt von dem 309 unter Diocletian als Märtyrer
gestorbenen Pamphilus her, der als begeisterter Schüler des
Origenes in Caesarea in Palästina wirkte. Die dritte endlich, die
später fast unbeschränkte Herrschaft gewann, weil sie in Kon-
stantinopel als offizieller Text gebraucht wurde, ist in Antiochia
durch einen in derselben Verfolgung 312 gestorbenen Märtyrer
Lukian hergestellt (K bei v. Soden). Zwar ist keine dieser Re-
zensionen in einer Handschrift rein überliefert. Aber v. Soden
meinte doch, auf Grund der noch erkennbaren Eigentümlichkeiten
jede von ihnen sicher ermitteln zu können. Indem er die näher
verwandten Textformen II und I bevorzugte, war er der Über-
zeugung, daß der von ihm hergestellte „authentische“ Text sich
kaum von dem im 3. Jahrhundert durch Origenes in Alexandrien
und Caesarea und durch Tertullian in Karthago gebrauchten unter-
scheide. Damit .wäre das von Lachmann der Textkritik gesteckte
Ziel weit überboten. An Stelle eines Textes vom Ende des 4. Jahr-
hunderts wären wir nun in der überaus erfreulichen Lage, einen
Text zu lesen, wie ihn die Christenheit des Abendlandes und des
Morgendlandes am Anfang des 3. Jahrhunderts besaß'. Zwischen
diesem Text und den Urschriften, wie sie aus den Händen der
Verfasser hervorgegangen waren, läge immerhin noch eine ziem-
lich große Spanne Zeit; aber diese Spanne wäre doch auf vier
Menschenalter zusammengeschrumpft.
Eine genauere Prüfung lehrt freilich, daß. diese Meinung
v. Südens eine Selbsttäuschung gewesen ist. Einen Text, der
genau übereinstimmend in Karthago und Caesarea gelesen wurde,
hat es weder um 220 noch später gegeben, konnte es auch nicht
u) Griechisches N. T., Text mit kurzem Apparat, 1913, S. XXI.