Erwin Preuschen:
απομνημονεύματα ist von Justin, worüber kein Zweifel herrschen
sollte, nur gewählt, um den heidnischen Adressaten die Eigen-
tümlichkeit der mit der Bezeichnung „Evangelien“ nicht genügend
erkennbaren Literaturgattung zu verdeutlichen. Daß Justin da-
mit eine Vielheit von „Evangelien“ habe andeuten wollen, ist
aus seinen Worten nicht zwingend zu schließen, da der Gebrauch
des Plurals ευαγγέλια eine Assimilation an den vorhergehenden
Plural απομνημονεύματα sein kann, wenn nicht überhaupt der
Singular herzustellen ist.46) Alle Versuche, bei Justin den Ge-
brauch der vier Evangelien zu erweisen, sind gescheitert47); sie
mußten auch scheitern, da eine Prüfung der Zitate zu der An-
nahme führt,'daß Justin nur eine einzige Schrift benutzt hat, daß
diese Schrift mit keinem unserer Evangelien identisch war, daß
sie aber mit dem Matthäusevangelium die größte Verwandtschaft
zeigte, daß die Schwierigkeiten, die durch die Beschaffenheit der
Zitate hervorgerufen werden, sofort schwinden, wenn die Echtheit
des Dialoges mit Tryphon, wie er jetzt vorliegt, preisgegeben
wird.48) Dies Evangelium, das man wohl nach Credners Vorgang
als das Hebräerevangelium ansehen darf, wollte „Erinnerungen“
der Apostel darstellen, die alle Merkmale der Zuverlässigkeit an
sich trugen; denn sie rührten nicht von einer Einzelperson her,
deren Gedächtnis doch immer trügerisch sein konnte, sondern von
einer Mehrheit, und sie rührten her von solchen, die Augenzeugen
der Ereignisse gewesen waren. Eine bessere Gewähr für die Zu-
verlässigkeit der Überlieferung ließ sich gar nicht denken. Dann
aber entsteht die Frage: Warum wurde der Zustand, für den noch
Justin Zeuge ist, aufgegeben, und warum hat die Kirche an die
Stelle des einen, als apostolisch bezeugten und gleichsam durch
die Autorität aller Apostel gewährleisteten Evangeliums das vier-
faltige Evangelium gesetzt, dessen Ansehen notgedrungen darunter
46) Ganz verzweifelt war der Ausweg, auf den die aus der Schule von F. Blass
hervorgegangene Dissertation von Lippelt geraten ist, bei Justin den Gebrauch
des Diatessarons nachzuweisen (Quae fuerint Justini Mart, απομνημονεύματα,
Diss. philol. Halenses XV 1, 1901). Dagegen ist die Beobachtung, die Lippelt
zu dieser Annahme geführt hat, durchaus richtig.
47) So vermutet Lippelt in der Anm. 46 genannten Dissertation, S. 95 sq.
48) Daß der Dialog in der Form, wie wir ihn lesen, erst aus der Zeit des
Septimius Severus stammen kann, läßt sich mit aller Sicherheit nachweisen. Ich
denke bei anderer Gelegenheit diesen Nachweis führen zu können. Auch aus
sprachlichen Gründen läßt sich dieser Nachweis ge\vinnen, wie eine noch unge-
druckte Arbeit von Dr, G, Schläger in Cassel eingehend zeigt.
απομνημονεύματα ist von Justin, worüber kein Zweifel herrschen
sollte, nur gewählt, um den heidnischen Adressaten die Eigen-
tümlichkeit der mit der Bezeichnung „Evangelien“ nicht genügend
erkennbaren Literaturgattung zu verdeutlichen. Daß Justin da-
mit eine Vielheit von „Evangelien“ habe andeuten wollen, ist
aus seinen Worten nicht zwingend zu schließen, da der Gebrauch
des Plurals ευαγγέλια eine Assimilation an den vorhergehenden
Plural απομνημονεύματα sein kann, wenn nicht überhaupt der
Singular herzustellen ist.46) Alle Versuche, bei Justin den Ge-
brauch der vier Evangelien zu erweisen, sind gescheitert47); sie
mußten auch scheitern, da eine Prüfung der Zitate zu der An-
nahme führt,'daß Justin nur eine einzige Schrift benutzt hat, daß
diese Schrift mit keinem unserer Evangelien identisch war, daß
sie aber mit dem Matthäusevangelium die größte Verwandtschaft
zeigte, daß die Schwierigkeiten, die durch die Beschaffenheit der
Zitate hervorgerufen werden, sofort schwinden, wenn die Echtheit
des Dialoges mit Tryphon, wie er jetzt vorliegt, preisgegeben
wird.48) Dies Evangelium, das man wohl nach Credners Vorgang
als das Hebräerevangelium ansehen darf, wollte „Erinnerungen“
der Apostel darstellen, die alle Merkmale der Zuverlässigkeit an
sich trugen; denn sie rührten nicht von einer Einzelperson her,
deren Gedächtnis doch immer trügerisch sein konnte, sondern von
einer Mehrheit, und sie rührten her von solchen, die Augenzeugen
der Ereignisse gewesen waren. Eine bessere Gewähr für die Zu-
verlässigkeit der Überlieferung ließ sich gar nicht denken. Dann
aber entsteht die Frage: Warum wurde der Zustand, für den noch
Justin Zeuge ist, aufgegeben, und warum hat die Kirche an die
Stelle des einen, als apostolisch bezeugten und gleichsam durch
die Autorität aller Apostel gewährleisteten Evangeliums das vier-
faltige Evangelium gesetzt, dessen Ansehen notgedrungen darunter
46) Ganz verzweifelt war der Ausweg, auf den die aus der Schule von F. Blass
hervorgegangene Dissertation von Lippelt geraten ist, bei Justin den Gebrauch
des Diatessarons nachzuweisen (Quae fuerint Justini Mart, απομνημονεύματα,
Diss. philol. Halenses XV 1, 1901). Dagegen ist die Beobachtung, die Lippelt
zu dieser Annahme geführt hat, durchaus richtig.
47) So vermutet Lippelt in der Anm. 46 genannten Dissertation, S. 95 sq.
48) Daß der Dialog in der Form, wie wir ihn lesen, erst aus der Zeit des
Septimius Severus stammen kann, läßt sich mit aller Sicherheit nachweisen. Ich
denke bei anderer Gelegenheit diesen Nachweis führen zu können. Auch aus
sprachlichen Gründen läßt sich dieser Nachweis ge\vinnen, wie eine noch unge-
druckte Arbeit von Dr, G, Schläger in Cassel eingehend zeigt.