I. Das Diatessaron und seine Bedeutung für die Textkritik der Evangelien. 27
diese Evangelien nicht als getrennte Schriften, die mit ihren
Widersprüchen Schwierigkeiten über Schwierigkeiten schüfen ünd
Zweifel, Unglauben und Abfall hervorriefen, wie Origenes klagend
gesteht, sondern als eine Einheit, gleichsam ein Bau, dessen
Eugen und Schichten die Kunst des Baumeisters zu verbergen
wußte. Es läßt sich gar nicht ermessen, welche Summe von
Arbeit, Von Bedrängnis·;und Not der Kirche erspart geblieben wäre,
wenn die Absicht Tatians erreicht und das Diatessaron das Evan-
gelium der Kirche geworden wäre.55) Aber es läßt sich anderer-
seits auch nicht ermessen, welche Einbuße an geschichtlich un-
ersetzlichem Stoff wir erlitten hätten, wie vollkommen ratlos die
Forschung vor einer Menge von Problemen stehen 'würde, die
sie wohl an der Hand des Diatessaron zu erkennen, die sie aber
nur mit Hilfe der getrennten Evangelien zu untersuchen und zu
lösen vermag. Wir dürfen daher dankbar die Vorsehung preisen,
die uns Mühe, Not und Arbeit, auch manchen Irrweg bereitet
hat, die uns aber unendlich viel reicher gemacht hat, als es alle
Kunst menschlichen Scharfsinns vermocht hätte.
Sind die im Vorhergehenden gezogenen Folgerungein richtig,
daß Tatian der Kirche das vielfältige Evangelium gab, und daß
er ihr es zugleich wieder nahm, indem er die vier Bücher zu einer
Einheit verschmolz, ferner daß er mit dem vielfältigen Evangelium
zugleich die Überlieferung über den apostolischen Ursprung der
Einzelschriften begründete, so erhebt sich die Frage, woher Tatian
diese Schriften erhielt, und worauf er die Überlieferung von ihrem
apostolischen Ursprung begründete. Denn daß man in Rom vor
Tatian keines von den vier Evangelien benutzte, zeigen die Zitate
im 1. Clemensbrief (13, 2. 46, 8), die freilich zu dürftig sind, um
55) Die syrische Kirche hat lange das Diatessaron als das einzige Evangelium
benutzt und sich wohl dabei befunden. Sie hat es erst abgeschafft, als sich
griechischer Einfluß geltend machte, der auch auf andern Gebieten diesem bis
dahin abgeschlossenen Kirchenwesen das Danaergeschenk theologischer Streitigkeiten
machte. Eine vollständige Ausrottung des Diatessarons ist trotz des heftigen
Kampfes, der dagegen geführt wurde, erst spät und nur allmählich gelungen.
Von den Syrern haben auch die Armenier, was bisher noch nicht erkannt worden
ist, das Evangelium in der Gestalt des Diatessarons erhalten und im 5. Jahrh..
der Periode eifrigster Übersctzertätigkeit, in dieser Form benutzt,. Früher mit
dem Griechentum in engere Fühlung gelangend als die Syrer, haben sie auch
früher ihr Evangelium aufgegeben und die Übersetzung nach den getrennten
Evangelien umgearbeitet. Es sind aber doch noch zahlreiche Reste des Ursprüng-
lichen stehen geblieben. Der Nachweis dieses Tatbestandes muß einer späteren
Untersuchung Vorbehalten bleiben,
diese Evangelien nicht als getrennte Schriften, die mit ihren
Widersprüchen Schwierigkeiten über Schwierigkeiten schüfen ünd
Zweifel, Unglauben und Abfall hervorriefen, wie Origenes klagend
gesteht, sondern als eine Einheit, gleichsam ein Bau, dessen
Eugen und Schichten die Kunst des Baumeisters zu verbergen
wußte. Es läßt sich gar nicht ermessen, welche Summe von
Arbeit, Von Bedrängnis·;und Not der Kirche erspart geblieben wäre,
wenn die Absicht Tatians erreicht und das Diatessaron das Evan-
gelium der Kirche geworden wäre.55) Aber es läßt sich anderer-
seits auch nicht ermessen, welche Einbuße an geschichtlich un-
ersetzlichem Stoff wir erlitten hätten, wie vollkommen ratlos die
Forschung vor einer Menge von Problemen stehen 'würde, die
sie wohl an der Hand des Diatessaron zu erkennen, die sie aber
nur mit Hilfe der getrennten Evangelien zu untersuchen und zu
lösen vermag. Wir dürfen daher dankbar die Vorsehung preisen,
die uns Mühe, Not und Arbeit, auch manchen Irrweg bereitet
hat, die uns aber unendlich viel reicher gemacht hat, als es alle
Kunst menschlichen Scharfsinns vermocht hätte.
Sind die im Vorhergehenden gezogenen Folgerungein richtig,
daß Tatian der Kirche das vielfältige Evangelium gab, und daß
er ihr es zugleich wieder nahm, indem er die vier Bücher zu einer
Einheit verschmolz, ferner daß er mit dem vielfältigen Evangelium
zugleich die Überlieferung über den apostolischen Ursprung der
Einzelschriften begründete, so erhebt sich die Frage, woher Tatian
diese Schriften erhielt, und worauf er die Überlieferung von ihrem
apostolischen Ursprung begründete. Denn daß man in Rom vor
Tatian keines von den vier Evangelien benutzte, zeigen die Zitate
im 1. Clemensbrief (13, 2. 46, 8), die freilich zu dürftig sind, um
55) Die syrische Kirche hat lange das Diatessaron als das einzige Evangelium
benutzt und sich wohl dabei befunden. Sie hat es erst abgeschafft, als sich
griechischer Einfluß geltend machte, der auch auf andern Gebieten diesem bis
dahin abgeschlossenen Kirchenwesen das Danaergeschenk theologischer Streitigkeiten
machte. Eine vollständige Ausrottung des Diatessarons ist trotz des heftigen
Kampfes, der dagegen geführt wurde, erst spät und nur allmählich gelungen.
Von den Syrern haben auch die Armenier, was bisher noch nicht erkannt worden
ist, das Evangelium in der Gestalt des Diatessarons erhalten und im 5. Jahrh..
der Periode eifrigster Übersctzertätigkeit, in dieser Form benutzt,. Früher mit
dem Griechentum in engere Fühlung gelangend als die Syrer, haben sie auch
früher ihr Evangelium aufgegeben und die Übersetzung nach den getrennten
Evangelien umgearbeitet. Es sind aber doch noch zahlreiche Reste des Ursprüng-
lichen stehen geblieben. Der Nachweis dieses Tatbestandes muß einer späteren
Untersuchung Vorbehalten bleiben,