I. Das Diatessaron und seine Bedeutung Mr die Textkritik der Evangelien. 6i
Fehde entspann, die bei der unsicheren rechtlichen Lage des
Christentums jederzeit zu schlimmen Verwicklungen führen
konnte. In Alexandria bereitete erst das Blutbad, das Caracalla
215 unter der Bevölkerung anrichtete114), und dem auch die Philo-
sophen zum Opfer fielen, der Entwicklung der christlichen Schule
vorübergehend ein Ende; in Rom kam es unter Marc Aurel zu
Prozessen, als deren Opfer Justin starb (um 165), und die zur
Folge gehabt zu haben scheinen, daß die christlichen Philosophen
das Feld räumten, und zwar für immer. Denn als Origenes um
218 Rom besuchte, fand er dort so wenig Anknüpfungspunkte,
daß er enttäuscht 'und zudem durch das weltliche Treiben, das dort
herrschte, angewidert die Stadt bald wieder verließ.
Man wird den Absichten, die Tatian mit der Abfassung des
Diatessarons verfolgte, nur dann gerecht, wenn man sich die Um-
gebung vergegenwärtigt, in der es entstanden ist. Es entsprang
unzweifelhaft einem wissenschaftlichen Bedürfnis, nicht einer zu-
fälligen Liebhaberei. Ob man die literarische Form, die Tatian
dabei vorgeschwebt haben mochte, noch feststellen kann, d. h.
ob man es als βίος bezeichnet oder darin eine Sammlung von
άρεταί erblickt, ist. demgegenüber gleichgültig. Was Tatian wollte,
ist doch wohl noch deutlich. Er machte den Versuch, die brauch-
bare und glaubwürdige Überlieferung des Schulstifters zu sammeln
und daraus eine zusammenhängende Darstellung zu formen, die in
einen chronologischen Rahmen gespannt, nicht eine bloße An-
einanderreihung einzelner Geschichten und Reden war, sondern
die Vorstellung einer bestimmten Zielen zustrebenden Entwick-
lung erweckte.115) Um dies Ziel erreichen zu können, mußte Tatian
zunächst die Evangelien in ihrem Aufbau zerstören, um den Bau-
m) Gassius Dio LXXV1I 22 sq. Caracalla ließ außer den Kaufleuten alle
Fremdeja aus der Stadt ausweisen, doch wurde auch deren Vermögen eingezogen,
soweit es nicht bei der Plünderung der Stadt in die Winde zerstreut worden war.
Das zeigt, daß es sich um ein Pogrom handelt. Die Schauspiele wurden ver-
boten, weil ein par schlechte Witze der alexandrinischen Komiker über Caracalla
den Anlaß zu dem Strafgericht gegeben hatten. Die Beseitigung der Pfründen,
deren Ertrag den Professoren zufloß, und die Vertreibung der Philosophen aus
der Stadt konnten zwar für den Augenblick die wissenschaftliche Tätigkeit in
Alexandria lähmen, sie aber doch nicht für die Dauer unterdrücken. Nachdem
das Unwetter vorübergegangen war, kehrten die Lehrer wieder zurück und nahmen
ihre Tätigkeit wieder auf, wie die Fortführung der Katechetenschule zeigt.
llä) Ich kann das hier nur andeuten. In einer späteren Abhandlung wird
der Aufbau und die Anordnung des Stoffes eingehender darzuslellen sein.
Fehde entspann, die bei der unsicheren rechtlichen Lage des
Christentums jederzeit zu schlimmen Verwicklungen führen
konnte. In Alexandria bereitete erst das Blutbad, das Caracalla
215 unter der Bevölkerung anrichtete114), und dem auch die Philo-
sophen zum Opfer fielen, der Entwicklung der christlichen Schule
vorübergehend ein Ende; in Rom kam es unter Marc Aurel zu
Prozessen, als deren Opfer Justin starb (um 165), und die zur
Folge gehabt zu haben scheinen, daß die christlichen Philosophen
das Feld räumten, und zwar für immer. Denn als Origenes um
218 Rom besuchte, fand er dort so wenig Anknüpfungspunkte,
daß er enttäuscht 'und zudem durch das weltliche Treiben, das dort
herrschte, angewidert die Stadt bald wieder verließ.
Man wird den Absichten, die Tatian mit der Abfassung des
Diatessarons verfolgte, nur dann gerecht, wenn man sich die Um-
gebung vergegenwärtigt, in der es entstanden ist. Es entsprang
unzweifelhaft einem wissenschaftlichen Bedürfnis, nicht einer zu-
fälligen Liebhaberei. Ob man die literarische Form, die Tatian
dabei vorgeschwebt haben mochte, noch feststellen kann, d. h.
ob man es als βίος bezeichnet oder darin eine Sammlung von
άρεταί erblickt, ist. demgegenüber gleichgültig. Was Tatian wollte,
ist doch wohl noch deutlich. Er machte den Versuch, die brauch-
bare und glaubwürdige Überlieferung des Schulstifters zu sammeln
und daraus eine zusammenhängende Darstellung zu formen, die in
einen chronologischen Rahmen gespannt, nicht eine bloße An-
einanderreihung einzelner Geschichten und Reden war, sondern
die Vorstellung einer bestimmten Zielen zustrebenden Entwick-
lung erweckte.115) Um dies Ziel erreichen zu können, mußte Tatian
zunächst die Evangelien in ihrem Aufbau zerstören, um den Bau-
m) Gassius Dio LXXV1I 22 sq. Caracalla ließ außer den Kaufleuten alle
Fremdeja aus der Stadt ausweisen, doch wurde auch deren Vermögen eingezogen,
soweit es nicht bei der Plünderung der Stadt in die Winde zerstreut worden war.
Das zeigt, daß es sich um ein Pogrom handelt. Die Schauspiele wurden ver-
boten, weil ein par schlechte Witze der alexandrinischen Komiker über Caracalla
den Anlaß zu dem Strafgericht gegeben hatten. Die Beseitigung der Pfründen,
deren Ertrag den Professoren zufloß, und die Vertreibung der Philosophen aus
der Stadt konnten zwar für den Augenblick die wissenschaftliche Tätigkeit in
Alexandria lähmen, sie aber doch nicht für die Dauer unterdrücken. Nachdem
das Unwetter vorübergegangen war, kehrten die Lehrer wieder zurück und nahmen
ihre Tätigkeit wieder auf, wie die Fortführung der Katechetenschule zeigt.
llä) Ich kann das hier nur andeuten. In einer späteren Abhandlung wird
der Aufbau und die Anordnung des Stoffes eingehender darzuslellen sein.