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Neckel, Gustav; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1918, 7. Abhandlung): Studien zu den germanischen Dichtungen vom Weltuntergang — Heidelberg, 1918

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https://doi.org/10.11588/diglit.37669#0032
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32

Gustav Neckel:

Alan ist heutzutage sehr geneigt, Zusammenhänge dieser Art
aufzufassen als Abhängigkeit der einzelnen Dichter unmittelbar
voneinander. Dies Verfahren kann auf die Dauer nicht befriedigen.
Die Vorbilder häufen sich; im einzelnen Falle können ihrer unwahr-
scheinlich viele werden, und sie geraten leicht in Widerspruch
miteinander. Dies würde sich noch deutlicher zeigen, wenn man
nicht immer bloß deutsche und angelsächsische Denkmäler mit-
einander vergliche, sondern auch die nordischen Stabreimgedichte
berücksichtigte. Diese stehen zwar durch ihre abweichende Stoff-
welt im ganzen mehr abseits, haben aber doch beachtenswert viele
Phrasen und Reimbindungen mit den westgermanischen Texten
gemein1, und es ist wohl unbestreitbar, daß dies nicht auf der
Kenntnis angelsächsischer oder deutscher Handschriften beruhen
kann. Nun ist allerdings die angelsächsisch-deutsche Kloster-
literatur in der Muttersprache eine Erscheinung für sich. Es sind
gewiß angelsächsische Gedichte in deutschen Klöstern hand-
schriftlich vorhanden gewesen (wie auch eine Handschrift der
altsächsischen Genesis nach England gekommen sein muß), und
die Motiv- und Wortanklänge zwischen angelsächsischer und deut-
scher Geistlichendichtung erklären sich zumeist auf diesem Wege.
Aber die Übereinstimmungen, die man nachgewiesen hat, reichen
nicht aus, um Benutzung gerade der uns erhaltenen Werke als
Quellen oder Vorlagen zu beweisen oder auch nur wahrscheinlich
zu machen. Z. B. geht aus den höchst beachtenswerten Berüh-
rungen zwischen 'Muspilli’ und Grist keineswegs hervor, daß
Frist III eine 'Quelle’ des 'Muspilli’ ist. In diesem Falle müßte
unser althochdeutscher Text ganz anders aussehen. Er ist nicht
zustande gekommen, indem ein Dichter mit einer Handschrift
des Grist vor Augen arbeitete und ihr sowohl seinen Stoff und
dessen Anordnung wie seine Ausdrücke und Reime teilweise ent-
nahm. Was man am ehesten für unmittelbaren Zusammenhang
anführen könnte, sind die wörtlichen Anklänge an den Crist in
den Muspilliversen 72, 90, 95, 96, 99. Man kann sie erklären
durch die Annahme, daß der Verfasser dieses Passus den Grist
habe vorlesen hören. Aber bei dem geringen Umfang der Gemein-
1 Z. B. begegnet die Bindung ags. jyllad mid feore (Crist), deren Wieder-
kehr im Heliand Unwerth a. a. 0. 364 bedeutsam findet, auch Vsp. 41:
fylliz fio/vi. Crist 1412 sar ond swar gewin ( Grau S. 215) kehrt wieder Ghv. 11:
svära sära. Die Fälle ließen sich häufen. Ein allgemeines Reim- und Phrasen-
lexikon der stabreimenden Dichtersprache ist ein Desiderium.
 
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