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Gustav Neckel:
Man sieht hier deutlich, wie der Dichter sehr unpedantisch, zu-
gleich unter dem Druck des Reimbedürfnisses, das gegebene
Thema variiert. Dazu ein Vorbild in den Lesarten der Apokalypse
aufzusuchen, hat kaum einen Wert, außer etwa, daß gezeigt wird,
wie die 'höchst auffallende Verwechselung’ auch einem griechi-
schen Abschreiber in den Sinn kommen konnte1. Eine Erklärung
für den fallenden Mond bei den germanischen Dichtern liegt darin
nicht. Eher würde eine solche durch den Hinweis gegeben werden,
daß auch in der lateinischen Predigtliteratur leichte Abwand-
lungen des immer neu verwendeten Stoffes gang und gäbe sind.
Die stabreimenden Geistlichen sind ja auch Prediger. Nur darf
von ihnen offenbar eher noch eine etwas freiere Stellung zum
Stoff erwartet werden als von lateinischen Prosaikern. Denn
wörtliches Übersetzen fiel ihnen schwerer als diesen wörtliches
Abschreiben. Das liegt in der Natur der Sache. Dann ist es aber
auch nicht erlaubt, ein Einzelmotiv wie mäno vallit, das in der
anscheinend befolgten lateinischen Quelle fehlt, daraufhin, und
weil es auch im Crist vorkommt, für heidnisch zu erklären2. Etwas
anderes ist es, wenn das Austrocknen der Flüsse und das Auf-
saugen des Moores durch das Feuer (Musp. 52 f.) in lateinischen
Quellen, deren Motive auch sonst entsprechen, nähere Gegen-
stücke findet als im Crist3. Da es nämlich feststeht, daß die Schil-
derung des Weltbrandes beim Jüngsten Gericht aus christlich-
lateinischer Überlieferung stammt, während eine Einwirkung des
Crist auf den 'Muspilli’-Text nicht einmal für dessen Hauptstück
sichergestellt ist, so kann die größere Übereinstimmung des Elias-
gedichtes mit den Lateinern schwerlich Zufall sein. Sie liefert
ein Beispiel für die größere Stoffgebundenheit und epische Schlicht-
heit der deutschen Geistlichen gegenüber der lyrisch-rhetorischen
Beschwingtheit der Angelsachsen.
Die eigentlichen Schwierigkeiten beginnen da, wo gefragt
werden muß, ob die Verbindung zwischen zwei geistlichen Texten
durch die Klosterliteratur geht oder durch vorchristliche münd-
liche Dichtung. Das Verhältnis zwischen Eliasgedicht und Crist
1 Vgl. hierzu Grau S. 58, v. Unwerth S. 350.
2 Baesecke' S. 421 f.
3 Ephraem: deficient fluvii, evanescent fontes, mare exsiccabitur\ Sibyllen-
orakel: exuret ignis ponturn, fontes torrentur fluminaque igne; Crist 967: das
Feuer verschlingt sses mid hyra fiscum, vgl. 985ff.
Gustav Neckel:
Man sieht hier deutlich, wie der Dichter sehr unpedantisch, zu-
gleich unter dem Druck des Reimbedürfnisses, das gegebene
Thema variiert. Dazu ein Vorbild in den Lesarten der Apokalypse
aufzusuchen, hat kaum einen Wert, außer etwa, daß gezeigt wird,
wie die 'höchst auffallende Verwechselung’ auch einem griechi-
schen Abschreiber in den Sinn kommen konnte1. Eine Erklärung
für den fallenden Mond bei den germanischen Dichtern liegt darin
nicht. Eher würde eine solche durch den Hinweis gegeben werden,
daß auch in der lateinischen Predigtliteratur leichte Abwand-
lungen des immer neu verwendeten Stoffes gang und gäbe sind.
Die stabreimenden Geistlichen sind ja auch Prediger. Nur darf
von ihnen offenbar eher noch eine etwas freiere Stellung zum
Stoff erwartet werden als von lateinischen Prosaikern. Denn
wörtliches Übersetzen fiel ihnen schwerer als diesen wörtliches
Abschreiben. Das liegt in der Natur der Sache. Dann ist es aber
auch nicht erlaubt, ein Einzelmotiv wie mäno vallit, das in der
anscheinend befolgten lateinischen Quelle fehlt, daraufhin, und
weil es auch im Crist vorkommt, für heidnisch zu erklären2. Etwas
anderes ist es, wenn das Austrocknen der Flüsse und das Auf-
saugen des Moores durch das Feuer (Musp. 52 f.) in lateinischen
Quellen, deren Motive auch sonst entsprechen, nähere Gegen-
stücke findet als im Crist3. Da es nämlich feststeht, daß die Schil-
derung des Weltbrandes beim Jüngsten Gericht aus christlich-
lateinischer Überlieferung stammt, während eine Einwirkung des
Crist auf den 'Muspilli’-Text nicht einmal für dessen Hauptstück
sichergestellt ist, so kann die größere Übereinstimmung des Elias-
gedichtes mit den Lateinern schwerlich Zufall sein. Sie liefert
ein Beispiel für die größere Stoffgebundenheit und epische Schlicht-
heit der deutschen Geistlichen gegenüber der lyrisch-rhetorischen
Beschwingtheit der Angelsachsen.
Die eigentlichen Schwierigkeiten beginnen da, wo gefragt
werden muß, ob die Verbindung zwischen zwei geistlichen Texten
durch die Klosterliteratur geht oder durch vorchristliche münd-
liche Dichtung. Das Verhältnis zwischen Eliasgedicht und Crist
1 Vgl. hierzu Grau S. 58, v. Unwerth S. 350.
2 Baesecke' S. 421 f.
3 Ephraem: deficient fluvii, evanescent fontes, mare exsiccabitur\ Sibyllen-
orakel: exuret ignis ponturn, fontes torrentur fluminaque igne; Crist 967: das
Feuer verschlingt sses mid hyra fiscum, vgl. 985ff.