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H. von Schubert:
und Kaiser. Im Moment ihres Zusammenbruchs erhebt sich die
Apokalyptik mit neuer Gewalt unter scharfer Wendung gegen
die falsche Form der Christenherrschaft in der bestehenden Kirche:
der Introductorius des Gerardo di Borgo San Donnino zu
Joachims v. Fiore Geschichtsprophetie von einem ewigen Evan-
gelium im Zeitalter des Geistes erschien 1254, ein Introductorius
auch zum Interregnum. Als dann um 1300 der letzte Papst mittel-
alterlichen Stiles, Bonifaz VIII., die Welt mit den alten Mitteln
zu lenken versuchte, sammelte Dolcino unter dem Einfluß des
Joachimismus seine „Apostelbrüder“ um die Predigt von der wahren
Gottesherrschaft unter einem heiligen Papst und einem guten
Kaiser, ehe das Weitende hereinbräche. Und hier ist dann die
Synthese zwischen Apokalyptik und apostolischer Nachfolge bereits
vollzogen, die uns in weit größerem Ausmaß und mit weit gefährliche-
rer Folge bei den radikalen Hussiten im 15. Jahrhundert begegnet:
bei den Taboriten. War sie dort ausgegangen von Mönchen, auf
asketisch-mönchische Gesichtspunkte eingestellt und auf kirchliche
Kreise bezogen, so ist hier eine Gottesgemeinde daraus geworden,
die sich zu einem ganzen Volke ausweiten und im Namen des gött-
lichen Rechts die höhere Lebensordnung in diesem Volk an die
Stelle der alten setzen will, wie sie nach den uns bekannten, der
Vernunft und der Schrift entnommenen Idealmaßstäben zu gestal-
ten war, darunter also auch die Gütergemeinschaft. Was Thomas
Münzer, wieder vom Taboritismus stark berührt, ein Jahrhundert
später mit einem gewaltigen Aufwand prophetischer Anmaßung
predigte und in Mühlhausen durchzuführen versuchte, würde dem-
gegenüber fast verschwinden, wenn es nicht auf dem Hintergrund
der Reformation durch die enge Verbindung mit Bauern- und
Täuferbewegung in Süddeutschland eine erhöhte Bedeutung ge-
wonnen und eine große Gefahr heraufbeschworen hätte — wobei
man freilich angesichts der oben geführten Untersuchung Bedenken
tragen wird mit Kolde1, die bei den Täufern nun zutage tretenden
kommunistischen Bestrebungen auf den Einfluß des einen Münzer
zu reduzieren. Mühlhausen ist doch wie ein Vorspiel zu Münster.
Die Apokalyptik nach Münster hineingetragen haben die
Melchioriten, die sich dort im Laufe des Jahres 1533 zu sammeln
begannen. In den Phantasien Melchior Hofmanns, eines schwäbi-
schen Kürschners von Haus aus, der damals am Ziel seiner Wander-
schaft über Livland und Stockholm, Kiel und Ostfriesland im
1 Im Art. Th. Münzer, Real.-Enc.3 XIII, 564, 23.
H. von Schubert:
und Kaiser. Im Moment ihres Zusammenbruchs erhebt sich die
Apokalyptik mit neuer Gewalt unter scharfer Wendung gegen
die falsche Form der Christenherrschaft in der bestehenden Kirche:
der Introductorius des Gerardo di Borgo San Donnino zu
Joachims v. Fiore Geschichtsprophetie von einem ewigen Evan-
gelium im Zeitalter des Geistes erschien 1254, ein Introductorius
auch zum Interregnum. Als dann um 1300 der letzte Papst mittel-
alterlichen Stiles, Bonifaz VIII., die Welt mit den alten Mitteln
zu lenken versuchte, sammelte Dolcino unter dem Einfluß des
Joachimismus seine „Apostelbrüder“ um die Predigt von der wahren
Gottesherrschaft unter einem heiligen Papst und einem guten
Kaiser, ehe das Weitende hereinbräche. Und hier ist dann die
Synthese zwischen Apokalyptik und apostolischer Nachfolge bereits
vollzogen, die uns in weit größerem Ausmaß und mit weit gefährliche-
rer Folge bei den radikalen Hussiten im 15. Jahrhundert begegnet:
bei den Taboriten. War sie dort ausgegangen von Mönchen, auf
asketisch-mönchische Gesichtspunkte eingestellt und auf kirchliche
Kreise bezogen, so ist hier eine Gottesgemeinde daraus geworden,
die sich zu einem ganzen Volke ausweiten und im Namen des gött-
lichen Rechts die höhere Lebensordnung in diesem Volk an die
Stelle der alten setzen will, wie sie nach den uns bekannten, der
Vernunft und der Schrift entnommenen Idealmaßstäben zu gestal-
ten war, darunter also auch die Gütergemeinschaft. Was Thomas
Münzer, wieder vom Taboritismus stark berührt, ein Jahrhundert
später mit einem gewaltigen Aufwand prophetischer Anmaßung
predigte und in Mühlhausen durchzuführen versuchte, würde dem-
gegenüber fast verschwinden, wenn es nicht auf dem Hintergrund
der Reformation durch die enge Verbindung mit Bauern- und
Täuferbewegung in Süddeutschland eine erhöhte Bedeutung ge-
wonnen und eine große Gefahr heraufbeschworen hätte — wobei
man freilich angesichts der oben geführten Untersuchung Bedenken
tragen wird mit Kolde1, die bei den Täufern nun zutage tretenden
kommunistischen Bestrebungen auf den Einfluß des einen Münzer
zu reduzieren. Mühlhausen ist doch wie ein Vorspiel zu Münster.
Die Apokalyptik nach Münster hineingetragen haben die
Melchioriten, die sich dort im Laufe des Jahres 1533 zu sammeln
begannen. In den Phantasien Melchior Hofmanns, eines schwäbi-
schen Kürschners von Haus aus, der damals am Ziel seiner Wander-
schaft über Livland und Stockholm, Kiel und Ostfriesland im
1 Im Art. Th. Münzer, Real.-Enc.3 XIII, 564, 23.