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Ritter, Constantin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1919, 19. Abhandlung): Platons Stellung zu den Aufgaben der Naturwissenschaft — Heidelberg, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.37696#0010
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10

Constantin Ritter:

Jedoch Galilei hat mit seinen durch klaren Verstand geleiteten
und gedeuteten Beobachtungen und Schlüssen zwar die moderne
Physik begründet, aber keine eigentlich neue Auffassung einge-
führt, vielmehr hat er den Grund zu Neuem damit gelegt, daß er1
glücklich die alte bisher vergebens gestellte Aufgabe gelöst hat,
die schon aus den Gedanken Platons, daß das Materielle dem Raum-
füllenden gleich sei, und daß die Beschreibung seiner Eigenschaften
eine Beschreibung seiner Kraftwirkungen sein müsse, sich ableiten
ließ. Denn noch nicht der klar gefaßte Begriff der Kraft, sondern
erst die sorgfältige Beschreibung einer tatsächlich in der Welt
wirkenden Kraft konnte zum Verständnis der Einzelerscheinungen
führen.
Indem Platon seine Annahmen über die Schwere sofort mit
der Vorstellung von der kugelförmigen Gestaltung des Kosmos
in Verbindung setzt, entwickelt er über den Sinn der Richtungs-
bezeichnungen Oben und Unten die entsprechenden Folgerungen
mit voller Geistesklarheit. Die natürlichen Ortsgegensätze in dem
kugelförmigen All, erklärt er, sind nur der des Umkreises und der
Mitte. Denkt man sich in der Mitte eine gleichmäßige feste Kugel,
so würde die nach keiner Richtung hin sich neigen noch angezogen
werden, sondern ruhig im Gleichgewicht schweben. Ein Mensch,
der auf ihrer Oberfläche dahinschritte, würde, nachdem er sie
halb umwandelt (στάς άντίπους 63a), mit dem Finger über seinen
Kopf hinaus genau dieselbe Richtung weisen, wie wenn er bei
Beginn seiner Wanderung auf den Standpunkt seiner Füße deutete.
Genau dieselbe Richtung also wäre für ihn zuerst abwärts, dann
aufwärts.
Den Begriff der Kraft aber faßt Platon in so weitem Sinne,
daß er nicht auf die Physik eingeschränkt ist, sondern die dauernde
Ursache jeder Wirksamkeit oder Betätigung, jedes Vermögen,
namentlich auch psychischer Art, mit in sich schließt. Mit auf-
fälliger Breite erläutert er den Sinn des Wortes in der Politeia2,
um hervorzuheben, daß eine Kraft als unsinnlich nicht mit sinn-
lichen Merkmalen beschrieben werden könne, sondern nur durch
Angabe des Gegenstands, an dem sie eingreift, und des Erfolgs,
den sie hervorbringt. Obgleich er dort von diesen Bemerkungen
nur für die Erkenntnistheorie Gebrauch macht, behalten sie natür-

1 Mit inzwischen konstruierten Instrumenten.
2 Pol. 477d.
 
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