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Ritter, Constantin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1919, 19. Abhandlung): Platons Stellung zu den Aufgaben der Naturwissenschaft — Heidelberg, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.37696#0012
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12

Constantia Ritter:

es keine Zeit gibt ohne Bewegung, ist was immer zeitliches Dasein
führt, dem Wechsel unterworfen. Scheinbares Beharren oder
Ruhen ist Erhaltung des Gleichgewichts. Diese Erklärung wird
zwar in so allgemeiner Fassung von Platon nicht ausdrücklich
abgegeben. Aber sie folgt aus den anderen von ihm aufgestellten
Sätzen. Denn einerseits versichert er ja, ein körperhaftes, sinn-
liches Ding könne nicht unveränderlich sein — nicht einmal die
Gestirne, die man für ewig unveränderlich halten möchte —;
anderseits behauptet er1, die Teile eines von der Mitte aus nach
allen Seiten gleichartig beschaffenen kugelförmigen Körpers
können sich gegeneinander nicht verschieben (weshalb auch eine
im Zentrum des Alls befindliche Kugel nach keiner Richtung ab-
weichen werde). Daß auch die inneren Veränderungen, die ein
Körper erleidet unter Abgang und Zugang von Stoffen und Wechsel
der Ansatzpunkte wirkender Kräfte, sich unter Umständen voll-
kommen die Wage halten können, zeigt uns die Schilderung vom
Ineinanderwirken der Teile des Kosmos, worin dessen Leben sich
betätigt. Was für ihn im strengsten Sinne gilt, daß er bei allen
Veränderungen sich in unstörbarem Gleichgewichtszustand be-
findet, das gilt mit Abminderungen und Einschränkungen auch
von den in ihm befaßten Sonderdingen, an denen wir sinnlich
keine Veränderung wahrnehmen können; insbesondere gilt es auch
von den organischen Körpern oder lebenden Wesen, die(s. S.70) wäh-
rend der Zeit der άκμή ihre Abgänge durch Nahrungsaufnahme er-
setzen2. Übrigens muß nach Platon schon die rein mechanische Be-
1 Phaid. 108 e f. πέπεισμαι, ... εί έ'στιν <ή γη sc.> έν μέσω τω ούρανω
περιφερής ούσα, ικανήν είναι αύτήν ίσχειν την ομοιότητα του ούρανοΰ αύτοΰ έαυτω
πάντη καί τής γης αύτής την ισορροπίαν · ίσόρροπον γάρ πραγμα όμοιου τίνος έν
μέσω τε-θ-ένούχ έξει μάλλον ούδ’ ήττον ούδαμόσε κλιθήναι, ομοίως δ’έχον άκλινές μενεΐ
und Tim. 62e εί γάρ τι καί στερεόν εϊη κατά μέσον τοΰ παντός ίσοπαλές, εις ούδέν
άν ποτέ των έσχάτων ένεχθείη διά την πάντη ομοιότητα αύτών. Schon Anaxi-
mandros hatte ja nach Arist. de caelo B 13.295 b 10 diesen Gedanken gefaßt.
2 Schon das Symposion macht die Bemerkung, daß die Bestandteile
des lebendigen Körpers sich in beständigem Stoffwechsel stetig erneuern,
und überträgt den Gedanken des scheinbaren Beharrens durch Erhaltung
des Gleichgewichtszustandes zwischen Wirkung und Gegenwirkung auch auf
das geistige Gebiet. „Auch von unserem Wissensinhalt geht nicht bloß der
eine Teil zugrund, während der andere sich erst bildet, sondern sogar an jedem
einzelnen dieser Inhalte zeigt sich dasselbe. Was wir Nachdenken nennen,
ist ein Zeugnis dafür, daß uns ein Inhalt entschwinden will. Vergessen näm-
lich bedeutet das Entschwinden von etwas Gewußtem; das Nachdenken
aber verschafft uns wieder ein neues Wissen und erhält so den Wissensbestand,
so daß er der gleiche zu bleiben scheint.“
 
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