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Ritter, Constantin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1919, 19. Abhandlung): Platons Stellung zu den Aufgaben der Naturwissenschaft — Heidelberg, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.37696#0018
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18

Constantia Ritter:

verglichen sind; denn kurz gesagt: Aristoteles ist ein sehr unzuver-
lässiger Gewährsmann und hat Platons Meinungen nachweislich
oft gar gröblich entstellt1. Außerdem aber ziehen sie die Aus-
führungen des Timaios über die Konstruktion der vier stofflichen
Elemente durch den Weltschöpfer heran, und weil diese so lauten
(s. S.24f. 34), als ob die Körper nicht durch Flächen begrenzt, son-
dern aus ihren Grenzflächen zusammengesetzt wären, behaupten sie,
den Raum selber und nicht den erfüllten Raum betrachte Platon
als das Prinzip der Stofflichkeit, den Raum aber lasse er aus Be-
wegung des Punktes entstehen, weil ja der bewegte Punkt zur
Linie, die bewegte Linie zur Fläche werde. Wenden wir diese
Theorie, die ja für die geometrische Betrachtung ihr Recht hat,
und deshalb auch unseren Mathematikern nicht fremd ist, auf die
vorliegenden Sätze an, so wäre die αρχή eben der mathematische
Punkt, die zweite und dritte Stufe, in die die αρχή übergehen
soll, wäre die Linie und Fläche, und die zwei bisher übersprungenen
Wörter würden nichts anderes ausdrücken, als die beginnende
Bewegung des Punktes. Also für den Anfang jedes Entstehens
wäre der Punkt oder ein punktueller Ansatz erklärt und aus dem
Punkt entsprängen, durch seine Bewegung und vermittelt durch
die Stufen der Linie und Fläche, sinnlich wahrnehmbare neue Eigen-
schaften an einem Körper oder entständen dadurch bisher nicht
vorhandene Körper. Stimmt das zum Timaios und zu dem, was
wir daraus teils schon entnommen, teils weiter noch zu betrachten
haben ? Ich kann nicht finden. Paßt es etwa in den Zusammen-
hang des ganzen Abschnitts ? Dies scheint mir die entscheidende
Frage. Und sie muß ich mit Entschiedenheit verneinen. Der Sinn
und Zweck der ganzen hier (in den ersten Kapiteln des 10. Buchs
des Nomoi) angestellten Untersuchung über die Bewegung ist,
zu zeigen, daß die sinnlich wahrnehmbare Bewegung als eine von
Körper zu Körper übertragene niemals einen Anfang haben könne2,
daß sie deshalb auch nie zu Stande gekommen und nicht als tat-
sächlich festzustellen wäre, wenn nicht ein ewiges Prinzip der
Bewegung vorhanden wäre, das als solches nicht in den sinnlichen
Zusammenhang der Bewegungen verkettet und selbst nicht sinn-
licher Art sein kann. Einen kräftigen Protest gegen den auf
Materialismus ruhenden Atheismus will Platon hier einlegen —
und den sollte er begründet und eingeleitet haben mit den abstrakt
1 Vgl. darüber z. B. Natorp, Platos Ideenlehre, Kapitel 11 u. 12.
2 Nom. 894 e. Vgl. oben S. 15.
 
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