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Constantin Ritter:
wird dargestellt als Wirkung der Zersplitterung oder der Mischung;
demnach möchte man das Entstehen sich vorstellen als Folge des
Zusammenschlusses von Teilen, die, für sich vereinzelt oder mit
überwiegend andersartigen vermischt, so klein sind wie die un-
sichtbar werdenden Splitter oder Trümmer des Vergehenden
(wieder ähnlich der Schilderung, die Anaxagoras vom Bemerklich-
werden neuer Eigenschaften gibt). Diese Vorstellung kann freilich
nicht aus den Worten des Textes herausgeholt, aber sie darf doch
wohl in sie hineingetragen werden, falls dadurch kein ernster
Anstoß geschaffen wird. — Die größte Schwierigkeit in der uns
vorliegenden Schilderung bieten immer die drei Stufen, zu welchen
die Entwicklung fortgeschritten sein muß, ehe das Werdende
unserer Auffassung bemerklich und als Objekt gegeben werden
kann, sowie die Übergänge zu diesen Stufen. Da das Ergebnis
jedenfalls die Wahrnehmung sinnlicher Eigenschaften ist, die mit
einem Mal bemerkt werden und vorher nicht bemerkt werden konn-
ten, so dürfen wir am ehesten vom Theaitetos Aufklärung hoffen,
der ja die Theorie der Sinneswahrnehmung aufs Sorgfältigste ent-
wickelt. Er lehrt uns, daß das sinnliche Hervortreten einer Eigen-
schaft bedingt sei durch zwei einander ergänzende Bewegungen,
deren eine von dem wahrgenommenen Objekt, deren andere von
dem wahrnehmenden Subjekt ausgeführt werde. Die des Subjekts
ist veranlaßt durch die des Objekts, die den äußeren Reiz und Anlaß
für die Bewegung des auffassenden Sinnesorgans abgibt1. In
diesen zwei im Raum sich verwirklichenden Bewegungen glaube
ich die zweite und dritte der fraglichen Stufen auf dem Weg zur
Wahrnehmung des neu Entstehenden zu erkennen. Die erste
Stufe zu bezeichnen hatte der Theaitetos keine Veranlassung,
weil er nicht das Auftauchen der an einem Ding zum erstenmal
neu sich bemerkbar machenden Eigenschaften, sondern nur das
Zustandekommen von Wahrnehmungen überhaupt schildern will.
So viel ich nun verstehe, wäre die erste Stufe die von einem un-
sinnlichen (d. h. ,,seelischen“) Prinzip ausgehende Anregung, also
eine „Bewegung“ nicht räumlicher Art. Das wird fast sichergestellt
durch Ausführungen, die wir einige Seiten weiter hinten in den
Nomoi lesen: „Alles am Himmel, auf der Erde und im Meer leitet
1 So fein die Einzelausführungen Theait. 156 a ff. sind, so muß ich sie
doch hier des Raumes halber beiseite lassen. Ich bemerke nur, daß ich keine
moderne Theorie der Wahrnehmung kenne, die besser und klarer wäre, und
verweise auf meine Untersuchungen über Plato von 1888, S. 145 ff. (Übrigens
s. auch unten S. 72 ff.)
Constantin Ritter:
wird dargestellt als Wirkung der Zersplitterung oder der Mischung;
demnach möchte man das Entstehen sich vorstellen als Folge des
Zusammenschlusses von Teilen, die, für sich vereinzelt oder mit
überwiegend andersartigen vermischt, so klein sind wie die un-
sichtbar werdenden Splitter oder Trümmer des Vergehenden
(wieder ähnlich der Schilderung, die Anaxagoras vom Bemerklich-
werden neuer Eigenschaften gibt). Diese Vorstellung kann freilich
nicht aus den Worten des Textes herausgeholt, aber sie darf doch
wohl in sie hineingetragen werden, falls dadurch kein ernster
Anstoß geschaffen wird. — Die größte Schwierigkeit in der uns
vorliegenden Schilderung bieten immer die drei Stufen, zu welchen
die Entwicklung fortgeschritten sein muß, ehe das Werdende
unserer Auffassung bemerklich und als Objekt gegeben werden
kann, sowie die Übergänge zu diesen Stufen. Da das Ergebnis
jedenfalls die Wahrnehmung sinnlicher Eigenschaften ist, die mit
einem Mal bemerkt werden und vorher nicht bemerkt werden konn-
ten, so dürfen wir am ehesten vom Theaitetos Aufklärung hoffen,
der ja die Theorie der Sinneswahrnehmung aufs Sorgfältigste ent-
wickelt. Er lehrt uns, daß das sinnliche Hervortreten einer Eigen-
schaft bedingt sei durch zwei einander ergänzende Bewegungen,
deren eine von dem wahrgenommenen Objekt, deren andere von
dem wahrnehmenden Subjekt ausgeführt werde. Die des Subjekts
ist veranlaßt durch die des Objekts, die den äußeren Reiz und Anlaß
für die Bewegung des auffassenden Sinnesorgans abgibt1. In
diesen zwei im Raum sich verwirklichenden Bewegungen glaube
ich die zweite und dritte der fraglichen Stufen auf dem Weg zur
Wahrnehmung des neu Entstehenden zu erkennen. Die erste
Stufe zu bezeichnen hatte der Theaitetos keine Veranlassung,
weil er nicht das Auftauchen der an einem Ding zum erstenmal
neu sich bemerkbar machenden Eigenschaften, sondern nur das
Zustandekommen von Wahrnehmungen überhaupt schildern will.
So viel ich nun verstehe, wäre die erste Stufe die von einem un-
sinnlichen (d. h. ,,seelischen“) Prinzip ausgehende Anregung, also
eine „Bewegung“ nicht räumlicher Art. Das wird fast sichergestellt
durch Ausführungen, die wir einige Seiten weiter hinten in den
Nomoi lesen: „Alles am Himmel, auf der Erde und im Meer leitet
1 So fein die Einzelausführungen Theait. 156 a ff. sind, so muß ich sie
doch hier des Raumes halber beiseite lassen. Ich bemerke nur, daß ich keine
moderne Theorie der Wahrnehmung kenne, die besser und klarer wäre, und
verweise auf meine Untersuchungen über Plato von 1888, S. 145 ff. (Übrigens
s. auch unten S. 72 ff.)