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Constantin Ritter:
Verlauf zusammensetzen, so wenig wie aus lauter getrennten
Raumabschnitten der in stetigem Zusammenhang gegebene Raum.
Und ferner die gegensätzlichen Eigenschaften, die uns ein beob-
achtetes Ding oft zeigt, sind an ihm nur wahrnehmbar als Folge
einer Veränderung (oder eines Werdens), wobei ein Übergang vom
Sosein zum Anderssein oder vom Nichtsein einer Eigenschaft zum
Sein derselben stattfindet. Im Augenblick des Übergangs selbst
scheint weder das eine noch das andere zu gelten oder beide zu-
gleich. Und doch verbieten uns die Denkgesetze, Sein und Nicht-
sein zugleich anzunehmen, und verlangen, daß wir ■ von solchen
Gegensätzen zu jeder Zeit entweder den einen oder den andern
gelten lassen. Die Aporie ist am schärfsten ausgedrückt in den
Sätzen: „Was vorher ruhte, dem wird es unmöglich begegnen,
daß es nachher sich bewege, was vorher sich bewegte wird unmög-
lich nachher ruhen können ohne Übergang (άνευ του μεταβάλλει,v) . . .
Es gibt aber keine Zeit, in der zugleich möglich wäre, daß etwas
weder in Rewegung sei noch in Ruhe . . . Wann findet also der
Übergang statt? da ja weder ein Ruhendes noch ein Rewegtes
noch ein in der Zeit Vorhandenes sich im Übergang befindet . . .
Gibt es <überhaupt> jenes Wunderbare, worin etwas dann wäre,
wenn es den Übergang ausführt, — den Augenblick (το έξαίφνης) ?
Eben das etwa scheint ja der Augenblick zu bezeichnen, daß aus
ihm nach beiden Seiten der Übergang stattfinde. Denn nicht
aus dem Zustand der Ruhe vollzieht er sich, so lang ein Ding
noch ruht, noch aus dem Zustand der Rewegung, so lang ein Ding
sich noch bewegt : vielmehr ist der Augenblick mitten eingeschoben
zwischen der Rewegung und der Ruhe als etwas Wunderbares,
das keiner Zeit angehört und in das eben und aus dem das Be-
wegte den Übergang zur Ruhe, das Ruhende den zur Bewegung
ausführt. “x
Beginn oder Ende des Zeitverlaufs können wir weder absehen
noch eigentlich uns vorstellen; jede Absteckung von zeitlichen
Grenzen, die wir vornehmen mögen, erscheint als ebenso will-
kürlich wie die von räumlichen Grenzen: nur zwischen Raum-
oder zwischen Zeitteilen lassen sich Grenzen befestigen und jen-
seits ihrer dehnen sich Raum und Zeit weiter ins endlos Unermeß-
liche. Der Begriff der einen allumfassenden Zeit mag deshalb
dem der Ewigkeit gleichgesetzt werden. Platon aber wehrt im
1 Parm. 156 c, d.
Constantin Ritter:
Verlauf zusammensetzen, so wenig wie aus lauter getrennten
Raumabschnitten der in stetigem Zusammenhang gegebene Raum.
Und ferner die gegensätzlichen Eigenschaften, die uns ein beob-
achtetes Ding oft zeigt, sind an ihm nur wahrnehmbar als Folge
einer Veränderung (oder eines Werdens), wobei ein Übergang vom
Sosein zum Anderssein oder vom Nichtsein einer Eigenschaft zum
Sein derselben stattfindet. Im Augenblick des Übergangs selbst
scheint weder das eine noch das andere zu gelten oder beide zu-
gleich. Und doch verbieten uns die Denkgesetze, Sein und Nicht-
sein zugleich anzunehmen, und verlangen, daß wir ■ von solchen
Gegensätzen zu jeder Zeit entweder den einen oder den andern
gelten lassen. Die Aporie ist am schärfsten ausgedrückt in den
Sätzen: „Was vorher ruhte, dem wird es unmöglich begegnen,
daß es nachher sich bewege, was vorher sich bewegte wird unmög-
lich nachher ruhen können ohne Übergang (άνευ του μεταβάλλει,v) . . .
Es gibt aber keine Zeit, in der zugleich möglich wäre, daß etwas
weder in Rewegung sei noch in Ruhe . . . Wann findet also der
Übergang statt? da ja weder ein Ruhendes noch ein Rewegtes
noch ein in der Zeit Vorhandenes sich im Übergang befindet . . .
Gibt es <überhaupt> jenes Wunderbare, worin etwas dann wäre,
wenn es den Übergang ausführt, — den Augenblick (το έξαίφνης) ?
Eben das etwa scheint ja der Augenblick zu bezeichnen, daß aus
ihm nach beiden Seiten der Übergang stattfinde. Denn nicht
aus dem Zustand der Ruhe vollzieht er sich, so lang ein Ding
noch ruht, noch aus dem Zustand der Rewegung, so lang ein Ding
sich noch bewegt : vielmehr ist der Augenblick mitten eingeschoben
zwischen der Rewegung und der Ruhe als etwas Wunderbares,
das keiner Zeit angehört und in das eben und aus dem das Be-
wegte den Übergang zur Ruhe, das Ruhende den zur Bewegung
ausführt. “x
Beginn oder Ende des Zeitverlaufs können wir weder absehen
noch eigentlich uns vorstellen; jede Absteckung von zeitlichen
Grenzen, die wir vornehmen mögen, erscheint als ebenso will-
kürlich wie die von räumlichen Grenzen: nur zwischen Raum-
oder zwischen Zeitteilen lassen sich Grenzen befestigen und jen-
seits ihrer dehnen sich Raum und Zeit weiter ins endlos Unermeß-
liche. Der Begriff der einen allumfassenden Zeit mag deshalb
dem der Ewigkeit gleichgesetzt werden. Platon aber wehrt im
1 Parm. 156 c, d.