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Ritter, Constantin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1919, 19. Abhandlung): Platons Stellung zu den Aufgaben der Naturwissenschaft — Heidelberg, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.37696#0040
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40

ConstaΝτίΝ Ritter:

Zeit1. Gewiß, daß es keine Zeitmessung und überhaupt keine
Zeitunterscheidung gäbe, wenn wohl alles in Bewegung wäre, aber
in einer überall gleichmäßigen, so daß für den beobachtenden
Blick keine Verschiebungen der auf einander bezogenen Gegen-
stände entstünden, so viel leuchtet ein. Es ist auch zuzugeben,
daß tatsächlich bestehende Unterschiede der Bewegung zuerst
von uns sinnlich wahrgenommen werden müssen, ehe sie unserem
Geist Anregung zu Unterscheidungen geben können, und daß
deshalb die Sonne, die selbst gleich den Lichtpunkten der Fix-
sternsphäre leuchtet und dazu den Bewohnern der Erde ihr Licht
spendet, für diese zur Gewinnung eines deutlichen Maßes von
wesentlicher Bedeutung ist. Das Zählen aber könnte man sagen
habe der Mensch ganz offenbar nicht an den beobachteten Stellungs-
veränderungen der Himmelskörper, sondern eher an seinen Fingern
gelernt. Ich glaube nicht, daß Platon, zur Bede gestellt, dies
leugnen wollte2, wie er denn auch selber im Parmenides das
Zählen aus dem Akt der Unterscheidung beliebiger Vorstellungs-
inhalte hervorgehen läßt3; aber er würde wohl behaupten, sterb-
liche Wesen, wie wir Menschen sind, die den Weltlauf und sich
selbst beobachten, könnte es gar nicht geben ohne die Vermitt-
lung jener Gestirne (mit denen die Erde in 40cef., 41 de, 42d
zusammengenommen wird). Sie erst machten individuelles Leben
in all seiner bunten Entfaltung möglich (vgl. 42d). Denn auch
Veränderung gäbe es wirklich nicht, wenn nur Fixsterne in stets
gleichen Abständen von einander einen Zentralkörper oder Zentral-
punkt umkreisten: diese Bewegung wäre nicht nur nicht zu beob-
achten, sondern mit Ruhe identisch und deshalb völlig zeitlos.
So scheint mir der Satz über die Entstehung des Zählens nur eine
Folgerung aus dem über die Entstehung der Zeit selbst und wenn
jener richtig ist, mit ihm zugleich anzunehmen4.
1 Vgl. 39b: ϊνα εΐη μέτρον εναργές τι προς άλληλα βραδυτήτι καί τάχει
ώς τά περί τάς οκτώ φοράς πορεύοιτο, φως δ θεός άνήψεν έν τη —ρος τήν γην δευτέρα
των περιόδων, δ δή νϋν κεκλήκαμεν ήλιον, ί'να δτι μάλιστα εις άπαντα φαίνοι τον
ούρανόν μετάσχοι τε αριθμού τά ζωα δσοις ήν προσήκον.
2 Vgl. Pol. 522 d.
3 Parm. 143 d ff.
4 Ausdenken freilich können wir uns die Entstehung der Zeit nicht,
ohne uns in Widerspruch zu verstricken. Der Gedanke der Entstehung ent-
hält die Vorstellung des Jetzt. Das Jetzt aber ist die Zeitgrenze zwischen
Vorher und Nachher. Jedoch ehe der zeitliche Verlauf besteht, kann es kein
Vorher und Nachher geben.
 
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