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Ritter, Constantin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1919, 19. Abhandlung): Platons Stellung zu den Aufgaben der Naturwissenschaft — Heidelberg, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.37696#0064
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64

Constantin Ritter:

gestoßen, um als Fische, Schnecken und andere Schaltiere ihr
neues Leben zu führen. ,,So gingen damals und gehen jetzt noch
die Formen aller lebenden Wesen (ζωα) gegenseitig ineinander über
infolge von Verlust oder Erwerb von Vernunft und Unvernunft.“
Die mythische Hülle der Erzählung bleibt immerhin durch-
sichtig. Der herausgeschälte Kern enthält den bedeutsamen Ge-
danken, daß die verschiedenen Ausprägungen des animalen Typus
verschiedene Stufen der Beseelung anzeigen, daß der Mensch als
höchste Entwicklungsform dieses Typus zu betrachten sei, daß
aber zwischen ihm und dem Tier keine unüberbrückliche Kluft
gähne. Eine Folge dieser Anschauung ist, daß Platon auch aus
der Vergleichung beider fruchtbare Anregungen schöpfen kann.
Ein schönes Beispiel dafür ist die Bemerkung, man könne die
Fingernägel des Menschen nicht recht verstehen ohne den Blick
auf die Tiere zu richten, für die ihre Klauen und Hufe eine viel-
fache und große Bedeutung haben (Tim. 76e). Wir ersehen daraus
zugleich, daß nach Platons eigentlicher Meinung das Hervortreten
der verschiedenen Artformen lebender Wesen wohl eher als auf-
steigende denn als durch Entartungen absteigende E n t w ick-
lung vorzustellen sein dürfte1. Die zeitliche Dauer des Menschen-
geschlechts auf der Erde stellt sich übrigens Platon als sehr lang-
wierig vor. Die Sorge darum, ob die Vorschläge seiner Politeia,
•von denen er für die ganze Menschheit das Heil erwartet, jemals
zur Ausführung kommen werden, sucht er zu bannen mit dem
Gedanken, daß im unendlichen Verlauf der Zeit2 alles was möglich
ist, sich auch einmal verwirklichen werde. In anderem Zusammen-
hang bespöttelt er den Adelsstolz derer, die auf eine Reihe erlauchter
Ahnen sich etwas zugut tun, als kurzsichtig, mit der Bemerkung3,
„ein jeder habe Millionen (μυριάδες . . . άναρίθμητοι) von Ahnen
und Vorfahren, unter denen gewöhnlich wohl Zehntausende von
Reichen und Bettlern, Königen und Knechten, Barbaren und
Hellenen sich befinden.“ Dazu paßt die mehrfach ausgesprochene
1 Ähnlich scheint nach der Darstellung der Politeia der Idealstaat die
Form zu sein, aus der die mangelhaft eingerichteten Staaten durch stufenweis
fortschreitende Entartung entstanden: zuerst Timarchie, dann Plutokratie
usw. Und doch sagt uns dieselbe Politeia, das Ideal sei wohl noch nie ver-
wirklicht gewesen, nur die Hoffnung könne bestehen, daß es im unendlichen
Verlauf der Zeit einmal irgendwo werde verwirklicht werden, um sich dann
lange dauernd zu behaupten.
2 Pol. 499 c.
3 Theait. 175 a.
 
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