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Ritter, Constantin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1919, 19. Abhandlung): Platons Stellung zu den Aufgaben der Naturwissenschaft — Heidelberg, 1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.37696#0100
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100

Constantin Ritter:

Sobald man sich anschickt, diese Fragen zu beantworten, wird
man finden, daß der angenommene Anfangszustand, mit dem die
Erzählung des Geschehens einsetzt, kein wirklicher Urzustand ist.
Kant nimmt hier eben das Gegebene als tatsächlich hin1. Platon,
der noch kein Mittel wußte, um die Masse der Gestirne und ihre
Bahnabstände zu berechnen, sucht auch dafür den Gedanken
fruchtbar zu machen, daß die Welt durch eine geistige Macht
geordnet sei. Gestützt auf diesen Gedanken wagt er eine Kon-
struktion2 und entwirft sein Schema des Weltenbaus nach durch-
sichtigen Verhältnissen mit einfachen in harmonischer Proportion
geordneten Zahlen.
Wir werden zwar gewiß der Kantischen Konstruktion vor der
Platonischen den Vorzug geben. Allein der Vorzug wird doch nur
darin begründet sein, daß für Kant Adel mehr sichere Einzeldaten
Vorlagen, die er verarbeitend verknüpfen konnte, während die
kühne platonische Konstruktion allmählich als mit den Ergebnissen
der fortschreitenden Forschung nicht übereinstimmend erfunden
worden war. Und wir sollen nicht vergessen, daß die Theorie von
den harmonischen Verhältnissen noch bei Kepler in Ansehen
stand, und daß sie ihm — wenn ich nicht irre — sagen wir als
heuristisches Prinzip sehr gute Dienste geleistet hat. Die Meinung,
daß die tatsächliche Welt in durchsichtigen Verhältnissen ge-
gliedert sei, hat sich überhaupt — ich will wieder vorsichtig sagen:
wenn ich nicht irre — unserer naturwissenschaftlichen Forschung
aufs vielfachste bewährt. In der Chemie z. B. scheint doch eben
diese Meinung es gewesen zu sein, was zur Aufstellung des periodi-
schen Systems der Elemente geführt hat, das zunächst rein hypo-
thetisch war, aber mehr und mehr infolge der Entdeckungen, die
unter Leitung dieser Hypothese gemacht worden sind, den Charak-
ter einer anerkannten in objektiven Verhältnissen des Stoffes be-
gründeten Theorie angenommen hat.
Abgesehen von der Frage nach dem letzten Grund der im
Kosmos erfahrungsgemäß gegebenen Massenverteilung bleibt noch
eine andere Frage für die Kantische Himmelskonstruktion ganz
außer dem Gesichtsfeld: nämlich die nach der Entstehung der
lebenden Wesen und des Menschen. Platon hat, wie wir gesehen
1 Ebenso andere moderne Naturphilosophen.
2 Ähnlich wie er es in derPhysik getan hat mit demVersuch. die elemen-
taren Verschiedenheiten des Stoffes auf einfache stereometrische Grundformen
zurückzuführen.
 
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