Metadaten

Ritter, Constantin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1919, 19. Abhandlung): Platons Stellung zu den Aufgaben der Naturwissenschaft — Heidelberg, 1919

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.37696#0102
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
102

Constantin Ritter:

am Anfang sich erheben. Wenn die Aufgabe ist zu zeigen, daß
überall das Beste oder Bestmögliche verwirklicht sei, dann sollte
man vor allem wissen: für wen das Beste? Die nächsthegende
Antwort auf diese Querfrage lautet ja wohl: das Beste für uns
Menschen. Und diese Antwort ist oft gegeben worden, nicht bloß
zur Zeit des Rationalismus im 18. Jahrhundert, sondern schon im
Altertum von Xenophon und manchen Stoikern. Doch gerade an
den Beispielen, die diese uns vorlegen, zeigt sich die ärmliche
Beschränktheit des anthropozentrischen Standpunkts. Wer der-
gleichen Ärmlichkeiten vermeiden will, der mag ja wohl als Zweck
das Wohl oder die gute Beschaffenheit des Ganzen der Welt be-
zeichnen. Das hat Platon getan in der tiefsinnigen Theodicee,
die seinem letzten altersreifen Werk, den Gesetzen, eingefügt ist1.
Es ist einleuchtend, daß, wer es ernstlich versucht, eine Betrach-
tung unter diesem Gesichtspunkt durchzuführen, bald erfahren
muß, die Erkenntniskräfte des menschlichen Geistes reichen dazu
nicht aus. Um den Zustand des Ganzen der Welt sicher zü beur-
teilen, müßten wir doch ihre sämtlichen Einzelbestandteile kennen.
Und unser Wissen bleibt immer klägliches Stückwerk (wie das
eben auch in den Gesetzen in kleinmütigem, fast pessimistisch
klingendem Ton ausgesprochen wird).
Unter diesen Umständen müssen wir, mindestens zur Aus-
füllung von Lücken und unsicheren Stellen, andere Wege der
Erklärung betreten. Denn einfach verzichten können wir nicht
auf Erklärung. In dem Verlangen nach solcher betätigt sich der
Einheitstrieb unseres Geistes, der die in endlosem Wechsel an
uns herandrängenden Eindrücke nicht einfach ruhig hinnehmen
und vorüberziehen lassen kann. Wie allgemein menschlich er ist,
das zeigt schon die allen Menschen eigentümliche Sprache, die
mit ihren Wortbezeichnungen zahllose Einzelheiten zu Gruppen
(in denen auch weiterhin unendlich viel neu Beobachtetes unter-
gebracht werden kann) zusammenfaßt; und ebenso zeigt es die
psychologische Beobachtung bei jedem Kind, das, indem sein
Geist sich zu entfalten beginnt, die Regung des Staunens darüber
empfindet, daß die Gegenstände seiner Wahrnehmung nicht un-
verändert beharren, und nun (um den Ausdruck des platonischen
Theaitetos zu brauchen) durch dieses μάλα φιλοσοφικόν πάθος ver-
anlaßt die bekannte Frage warum? warum? und immer wieder

1 Nom. 903b ff. Vgl. meine Inhaltsdarstellung' S. 101 ff.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften