Neue Gerüchte.
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zehnte später im Kloster Soröe bei Roeskilde gesichtet, freilich
von einem homo vagus atque inconstans, licet admodum eruditus,
bleibt hei den sofort von Florenz aus aufs eifrigste betriebenen
Nachforschungen unauffindbar. Und wiederum, nach Jahren, neue
Gerüchte, in Dänemark oder Norwegen liege der Schatz! Auch
diesmal gelingt es nicht ihn zu heben, und ohne den Livius kehrt
der von Nicolaus V. auf die Suche gesandte Enoch von Ascoli
heim. Von neuem flackert das Irrlicht, länger und öfter als zuvor,
zur Zeit Papst Leo X. Mit besonderem Auftrag, den Livius zu
beschaffen, wird Heitmers 1517 ausgeschickt; vergeblich. Kurz
darauf, 1521, heißt es, Martin Gröning in Bremen habe die Dekaden
und Boeker T. Livii, de man nicht hejft aus Drontheim erhalten;
doch kaum ist des Papstes Agent mit schwerem Gelde bei der
Hand, da hat auch der Tod schon den Besitzer geholt, und Kinder
den Livius zerrissen. Da, wenige Jahre später, 1527, geschah das
unverhoffte: in Lorsch tat Grynaeus seinen einzigartigen Fund,
und nun schrieb Erasmus: Certe postea quam hasce reliquias praeter
omnium spem obierit fortuna, non video cur desperemus et plura
posse contingere. Seitdem hörte die gelehrte Welt erst recht nicht
mehr auf zu hoffen. Wo immer ein geheimnisvoller, unbekannter
Bücherhort vermutet ward, da ahnte man auch den verlorenen
Livius, die Wahrscheinlichkeit, den Schatz zu heben, hing nur vom
Maß der Kritik und vom Temperament der jeweiligen Spürer ab.
Harlav hat an sein Vorhandensein im Serai geglaubt und sich um
ihn bemüht, wie andere vor ihm ihn an anderem Orte gesichtet
und an sich zu bringen gehofft hatten.
Nur ein Glied in einer langen Reihe ist der Glaube an den
Livius des Serai. Der schützenden Erklärung, die Mordtmanns
Vermutung bietet1, bedarf della Valles Mitteilung nicht, wohl aber
ist es unzulässig, die Sage vom Livius des Serai als Beweis gegen
die Existenz einer Bibliothek im Serai zu damaliger Zeit über-
haupt anzuführen.
Von seinem Posten in Konstantinopel wurde Harlay de Sancy
1618 abberufen2. Nach Paris zurückgekehrt, nahm er das geist-
1 Philologus, Jg. 5, 1850, S. 761: Pulibius Tarichi = „Geschichte des
Polybius“, gelesen als Bu Libius Tarichi = „dies ist die Geschichte des Libius“.
- Eman. Miller hat 1864 einen Livius in der Bibliothek des Serai festgestellt,
der bisher nicht wieder aufgetaucht ist, vgl. Archives des missions scienti-
fiques, Serie II, T. 2, 1865, S. 496; Blass, Hermes 23, 1888, S. 229, 233.
2 Die Gründe dafür lagen in der Führung der Gesandtschaftsgeschäfte,
den letzten Anstoß gab der Umstand, daß Harlays Sekretär Martin einigen
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zehnte später im Kloster Soröe bei Roeskilde gesichtet, freilich
von einem homo vagus atque inconstans, licet admodum eruditus,
bleibt hei den sofort von Florenz aus aufs eifrigste betriebenen
Nachforschungen unauffindbar. Und wiederum, nach Jahren, neue
Gerüchte, in Dänemark oder Norwegen liege der Schatz! Auch
diesmal gelingt es nicht ihn zu heben, und ohne den Livius kehrt
der von Nicolaus V. auf die Suche gesandte Enoch von Ascoli
heim. Von neuem flackert das Irrlicht, länger und öfter als zuvor,
zur Zeit Papst Leo X. Mit besonderem Auftrag, den Livius zu
beschaffen, wird Heitmers 1517 ausgeschickt; vergeblich. Kurz
darauf, 1521, heißt es, Martin Gröning in Bremen habe die Dekaden
und Boeker T. Livii, de man nicht hejft aus Drontheim erhalten;
doch kaum ist des Papstes Agent mit schwerem Gelde bei der
Hand, da hat auch der Tod schon den Besitzer geholt, und Kinder
den Livius zerrissen. Da, wenige Jahre später, 1527, geschah das
unverhoffte: in Lorsch tat Grynaeus seinen einzigartigen Fund,
und nun schrieb Erasmus: Certe postea quam hasce reliquias praeter
omnium spem obierit fortuna, non video cur desperemus et plura
posse contingere. Seitdem hörte die gelehrte Welt erst recht nicht
mehr auf zu hoffen. Wo immer ein geheimnisvoller, unbekannter
Bücherhort vermutet ward, da ahnte man auch den verlorenen
Livius, die Wahrscheinlichkeit, den Schatz zu heben, hing nur vom
Maß der Kritik und vom Temperament der jeweiligen Spürer ab.
Harlav hat an sein Vorhandensein im Serai geglaubt und sich um
ihn bemüht, wie andere vor ihm ihn an anderem Orte gesichtet
und an sich zu bringen gehofft hatten.
Nur ein Glied in einer langen Reihe ist der Glaube an den
Livius des Serai. Der schützenden Erklärung, die Mordtmanns
Vermutung bietet1, bedarf della Valles Mitteilung nicht, wohl aber
ist es unzulässig, die Sage vom Livius des Serai als Beweis gegen
die Existenz einer Bibliothek im Serai zu damaliger Zeit über-
haupt anzuführen.
Von seinem Posten in Konstantinopel wurde Harlay de Sancy
1618 abberufen2. Nach Paris zurückgekehrt, nahm er das geist-
1 Philologus, Jg. 5, 1850, S. 761: Pulibius Tarichi = „Geschichte des
Polybius“, gelesen als Bu Libius Tarichi = „dies ist die Geschichte des Libius“.
- Eman. Miller hat 1864 einen Livius in der Bibliothek des Serai festgestellt,
der bisher nicht wieder aufgetaucht ist, vgl. Archives des missions scienti-
fiques, Serie II, T. 2, 1865, S. 496; Blass, Hermes 23, 1888, S. 229, 233.
2 Die Gründe dafür lagen in der Führung der Gesandtschaftsgeschäfte,
den letzten Anstoß gab der Umstand, daß Harlays Sekretär Martin einigen