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Otto Cartellieri:
König Wilhelm hatte ganz plötzlich und unerwartet die Nutz-
losigkeit seines Widerstandes ein gesehen, endlich hörte der Kriegs-
zustand mit Holland auf. Eine neue Epoche begann für Belgien.
Die alles beherrschende Daseinsfrage verschwand; keine Fremd-
herrschaft mehr, endlich Selbständigkeit, Unabhängigkeit. Das
politische Leben der Belgier bekommt einen anderen Ausdruck.
Die innere Politik ist nicht mehr der äußeren untertan, sie tritt
gleichberechtigt neben sie. Gegensätze, die bislang, wenn nicht
geruht, so doch nur leise sich geregt haben, machen sich auf das
schärfste fühlbar. Wild flammt der Parteihader empor. Während
des ersten Dezenniums hatte es Gemäßigte und Badikale gegeben.
Als Bogier und seine Kollegen sich im Jahre 1833 entschlossen,
die Kammer aufzulösen, hieß es noch in ihrem Manifeste: ,,Les
questions que les electeurs attaches a la nationalite beige, devraient
poser ä leurs candidats, sont celles-ci! Etes-vous du parti modere ?
Catholique ou liberal, peu m’importe, vous aurez ma voix. Etes-
vous du parti exalte ? Catholique ou liberal, peu m’importe,
vous n’aurez pas mon suffrage.“ Die Lage hatte sich von Grund
aus verändert. Die alte Trennung entstand aufs neue: Katholiken
und Liberale traten einander entgegen, die „Union“ begann zu
zerfallen.
Rogier erfuhr es bald selbst. Am 18. April 1840 wurde er
zum zweitenmal Minister und übernahm in dem gemäßigt-libera-
len Kabinett Lebeau die öffentlichen Arbeiten, die schönen Künste,
Wissenschaften und Unterricht. Kaum ein Jahr später und das
Ministerium mußte den Katholiken weichen (13. April 1841).
Auch diese kurze Amtstätigkeit verrät den Schaffensdrang
des Unermüdlichen. Als „ancien soldat de la phalange qui n’a
pas perdu de vue le drapeau“ stürzte sich Rogier auf die Unterrichts-
fragen und arbeitete unter besonderer Berücksichtigung der In-
dustrie, „der Königin dieser Zeit“, ein neues Schulgesetz aus.
Auch Reformen für die Eisenbahnen waren in Aussicht genommen —
ela verließ Rogier den Ministerstuhl.
Noch fünf Jahre bestand nach außen hin das System der „Union“,
aber die Parteien bildeten sich in Art und Unart immer weiter
aus. Als im März 1846 das gemischte Ministerium Sylvain van
de Weyer nach wenigen Monaten durch das rein katholische
de Theux abgelöst wurde, versuchte in Brüssel der „Congres
Liberal“, alle liberalen Kräfte zusammenzufassen und die Richt-
linien für die Zukunft zu Zeichen. An dieser „Charte liberale“
Otto Cartellieri:
König Wilhelm hatte ganz plötzlich und unerwartet die Nutz-
losigkeit seines Widerstandes ein gesehen, endlich hörte der Kriegs-
zustand mit Holland auf. Eine neue Epoche begann für Belgien.
Die alles beherrschende Daseinsfrage verschwand; keine Fremd-
herrschaft mehr, endlich Selbständigkeit, Unabhängigkeit. Das
politische Leben der Belgier bekommt einen anderen Ausdruck.
Die innere Politik ist nicht mehr der äußeren untertan, sie tritt
gleichberechtigt neben sie. Gegensätze, die bislang, wenn nicht
geruht, so doch nur leise sich geregt haben, machen sich auf das
schärfste fühlbar. Wild flammt der Parteihader empor. Während
des ersten Dezenniums hatte es Gemäßigte und Badikale gegeben.
Als Bogier und seine Kollegen sich im Jahre 1833 entschlossen,
die Kammer aufzulösen, hieß es noch in ihrem Manifeste: ,,Les
questions que les electeurs attaches a la nationalite beige, devraient
poser ä leurs candidats, sont celles-ci! Etes-vous du parti modere ?
Catholique ou liberal, peu m’importe, vous aurez ma voix. Etes-
vous du parti exalte ? Catholique ou liberal, peu m’importe,
vous n’aurez pas mon suffrage.“ Die Lage hatte sich von Grund
aus verändert. Die alte Trennung entstand aufs neue: Katholiken
und Liberale traten einander entgegen, die „Union“ begann zu
zerfallen.
Rogier erfuhr es bald selbst. Am 18. April 1840 wurde er
zum zweitenmal Minister und übernahm in dem gemäßigt-libera-
len Kabinett Lebeau die öffentlichen Arbeiten, die schönen Künste,
Wissenschaften und Unterricht. Kaum ein Jahr später und das
Ministerium mußte den Katholiken weichen (13. April 1841).
Auch diese kurze Amtstätigkeit verrät den Schaffensdrang
des Unermüdlichen. Als „ancien soldat de la phalange qui n’a
pas perdu de vue le drapeau“ stürzte sich Rogier auf die Unterrichts-
fragen und arbeitete unter besonderer Berücksichtigung der In-
dustrie, „der Königin dieser Zeit“, ein neues Schulgesetz aus.
Auch Reformen für die Eisenbahnen waren in Aussicht genommen —
ela verließ Rogier den Ministerstuhl.
Noch fünf Jahre bestand nach außen hin das System der „Union“,
aber die Parteien bildeten sich in Art und Unart immer weiter
aus. Als im März 1846 das gemischte Ministerium Sylvain van
de Weyer nach wenigen Monaten durch das rein katholische
de Theux abgelöst wurde, versuchte in Brüssel der „Congres
Liberal“, alle liberalen Kräfte zusammenzufassen und die Richt-
linien für die Zukunft zu Zeichen. An dieser „Charte liberale“