Studien über Rudolf von Ems.
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Spielraum gelassen, der Bußprediger und Volksredner wendet
derbere Ausdrucksbewegungen an als sie im normalen Predigt-
vortrag üblich sind. — Das getreueste und umfassendste Bild
der Lebensäußerungen der mhd. Zeit gibt uns die Literatur, in
der Darstellung von Freude und Leid usw. spielen sich vor uns
die inneren seelischen Vorgänge ab, auch die bildende Kunst
zeichnet uns die körperlichen Reaktionen auf Gefühl und Willen1,
mit beschränkteren Mitteln traditionell gebunden und typisch noch
unfreier. Aber zur realistischen Ausgestaltung des Wirklichkeits-
bildes, zur individualisierenden Beobachtung des rhythmischen
Ablaufs und der relativen Stärke der Reizauslösungen ist die
mittelalterliche Kunst nicht gelangt.
III. Das Publikum (die Kritik). Zweck des Prologs..
Eine lateinische Gerichtsrede zerfällt in fünf Teile: 1. Ex-
■ordium, Eingang; 2. Narratio, Erzählung; 3. Propositio, Fest-
stellung der Hauptfrage; 4. Confirmatio, Beweisführung; 5. Con-
nlusio, Schluß (De oratore II, 19, De inventione I, 19; Ad Heren-
niuml, 8; s. ferner Isidor Etymol. II, 7; Notker, De arte rhetorica,
§10 u. 12 [Piper 2, 650f.]; Conradus Hirs. S. 23f., 76f.). Für ein
literarisches Werk kommen nur drei dieser Teile in Betracht (die
Propositio und Confirmatio sind lediglich prozessuale Bestand-
teile): der Eingang, Exordium, Proemium, Prologus; der Haupt-
teil, die Erzählung, Narratio; der Schluß, Conclusio.
Die Eingänge2 der Reden müssen mit Sorgfalt und Scharf-
sinn ausgearbeitet, reich an Gedanken (sententiis), treffend im
Ausdruck sein, denn im Eingang hegt die Empfehlung des Redners
(Cicero, De oratore II, 78, 315). Sie müssen Schmuck und Würde
besitzen (ornamentum et dignitatem). Dieses Gesetz wird all-
gemein auch in den mhd. Prologen beobachtet und gerade Rudolf
hat die seinen ja sehr kunstreich und gedankenschwer ausgestaltet.
Auf die Zuhörer ist das Exordium berechnet und hat diesen gegen-
über drei Bedingungen zu erfüllen: benivolum, attentum
(oder intentum), docilem facere, es muß sie wohlwollend, auf-
merksam, gelehrig machen De oratore II, 19, 80, und besonders
De inventione I, 15. 16. 18; Ad Herennium I, 4; Quintilian IV,
1 Burdach, Deutsche Renaissance (Deutsche Abende, Vierter Vortrag)
S. 15 und Literatur an gaben S. 98.
2 Volkmann2 S. 127 ff.
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Spielraum gelassen, der Bußprediger und Volksredner wendet
derbere Ausdrucksbewegungen an als sie im normalen Predigt-
vortrag üblich sind. — Das getreueste und umfassendste Bild
der Lebensäußerungen der mhd. Zeit gibt uns die Literatur, in
der Darstellung von Freude und Leid usw. spielen sich vor uns
die inneren seelischen Vorgänge ab, auch die bildende Kunst
zeichnet uns die körperlichen Reaktionen auf Gefühl und Willen1,
mit beschränkteren Mitteln traditionell gebunden und typisch noch
unfreier. Aber zur realistischen Ausgestaltung des Wirklichkeits-
bildes, zur individualisierenden Beobachtung des rhythmischen
Ablaufs und der relativen Stärke der Reizauslösungen ist die
mittelalterliche Kunst nicht gelangt.
III. Das Publikum (die Kritik). Zweck des Prologs..
Eine lateinische Gerichtsrede zerfällt in fünf Teile: 1. Ex-
■ordium, Eingang; 2. Narratio, Erzählung; 3. Propositio, Fest-
stellung der Hauptfrage; 4. Confirmatio, Beweisführung; 5. Con-
nlusio, Schluß (De oratore II, 19, De inventione I, 19; Ad Heren-
niuml, 8; s. ferner Isidor Etymol. II, 7; Notker, De arte rhetorica,
§10 u. 12 [Piper 2, 650f.]; Conradus Hirs. S. 23f., 76f.). Für ein
literarisches Werk kommen nur drei dieser Teile in Betracht (die
Propositio und Confirmatio sind lediglich prozessuale Bestand-
teile): der Eingang, Exordium, Proemium, Prologus; der Haupt-
teil, die Erzählung, Narratio; der Schluß, Conclusio.
Die Eingänge2 der Reden müssen mit Sorgfalt und Scharf-
sinn ausgearbeitet, reich an Gedanken (sententiis), treffend im
Ausdruck sein, denn im Eingang hegt die Empfehlung des Redners
(Cicero, De oratore II, 78, 315). Sie müssen Schmuck und Würde
besitzen (ornamentum et dignitatem). Dieses Gesetz wird all-
gemein auch in den mhd. Prologen beobachtet und gerade Rudolf
hat die seinen ja sehr kunstreich und gedankenschwer ausgestaltet.
Auf die Zuhörer ist das Exordium berechnet und hat diesen gegen-
über drei Bedingungen zu erfüllen: benivolum, attentum
(oder intentum), docilem facere, es muß sie wohlwollend, auf-
merksam, gelehrig machen De oratore II, 19, 80, und besonders
De inventione I, 15. 16. 18; Ad Herennium I, 4; Quintilian IV,
1 Burdach, Deutsche Renaissance (Deutsche Abende, Vierter Vortrag)
S. 15 und Literatur an gaben S. 98.
2 Volkmann2 S. 127 ff.