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Gustav Ehrismann:
Die Stilkunst der führenden höfischen Dichter beruht in
charakteristischen Ausdrucksformen auf der lateinischen Rhetorik.
Im Rhetorikunterricht lernte man im Mittelalter die Stilkunst1.
Die Schule2 gab die Regeln und erzog die Fähigkeit zum dich-
terischen Ausdruck. Für die Notare und Kanzleibeamten war die
Rhetorik die wichtigste der sieben Künste, im höchsten Ansehen
für den Kurialstil stand der Typus der päpstlichen Kanzlei. Viele
mittelhochdeutsche Dichter besaßen die Bildung einer Gelehrten-
schule und hatten jedenfalls das Trivium, also auch die Rhetorica
studiert, Veldeke, Hartmann, Gotfrid, sicher auch Rudolf. Aber
für die Ausübung der dichterischen Kunst war die Nachahmung
hervorragender Muster zum Grundsatz geworden. So wirkt auf
den dichtenden Autor neben der Tradition der Schule auch noch
ein spezieller Führer bei der Ausbildung seines Stils. Die mhd.
höfischen Dichter waren außerdem, soweit sie altfranzösische
Werke übertrugen, von diesen abhängig. Für Wolfram hat
Singer französische Einflüsse nachgewiesen, Gotfrid fand schon
in seiner Quelle, dem Tristan des Thomas, die Anlage zum zier-
lichen Stil. Wie viel von eigener rhetorischer Schulung ein mhd.
Autor bei der Übertragung eines französischen Werkes hinzu-
brachte, wird nie restlos zu erkennen sein. Gotfrid hat seinen
französischen Gewährsmann, dem er stofflich genau folgte, an
Eleganz und Kunst übertroffen, in der sprachlichen Formgebung
hat er sich also größere Selbständigkeit bewahrt. Rudolf geht
wieder über sein Vorbild Gotfrid in der formellen Behandlung
hinaus. Hat er selbständig die prägnante Eigenart seines Meisters
zur Manier ausgebildet, indem er die von jenem schon vorge-
zeichneten Formen zum Muster nahm und übertrieb, erweiterte,
,,amplifizierte“ ? Oder hat er bei dieser Überspannung der Schmuck-
mittel sich wiederum nach einem lateinischen Meister gerichtet ?
Die Manier des Alanus war zu seiner Zeit beliebt; ein Beispiel,
wie sie wirkte, haben wir in den preziösen Künsten des Magisters
Heinrich von Isernia. Diese Mode hat auch Rudolf mitgemacht,
vielleicht unter unmittelbarer Anlehnung an Alanus.
Die Ars rhetorica war aber auch die Grundlage für die Kanzel-
beredsamkeit. Predigtstil und höfischer Erzählungsstil sind
darum miteinander verwandt, nur durfte die geistliche Sprache
nicht in die weltlichen Künsteleien ausarten. Maßvoll soll die
1 Burdach, Deutsche Renaissance, S. 14f.
2 Vgl. Kuno Francke a. a. O., Wilib. Schrötter a. a. 0.
Gustav Ehrismann:
Die Stilkunst der führenden höfischen Dichter beruht in
charakteristischen Ausdrucksformen auf der lateinischen Rhetorik.
Im Rhetorikunterricht lernte man im Mittelalter die Stilkunst1.
Die Schule2 gab die Regeln und erzog die Fähigkeit zum dich-
terischen Ausdruck. Für die Notare und Kanzleibeamten war die
Rhetorik die wichtigste der sieben Künste, im höchsten Ansehen
für den Kurialstil stand der Typus der päpstlichen Kanzlei. Viele
mittelhochdeutsche Dichter besaßen die Bildung einer Gelehrten-
schule und hatten jedenfalls das Trivium, also auch die Rhetorica
studiert, Veldeke, Hartmann, Gotfrid, sicher auch Rudolf. Aber
für die Ausübung der dichterischen Kunst war die Nachahmung
hervorragender Muster zum Grundsatz geworden. So wirkt auf
den dichtenden Autor neben der Tradition der Schule auch noch
ein spezieller Führer bei der Ausbildung seines Stils. Die mhd.
höfischen Dichter waren außerdem, soweit sie altfranzösische
Werke übertrugen, von diesen abhängig. Für Wolfram hat
Singer französische Einflüsse nachgewiesen, Gotfrid fand schon
in seiner Quelle, dem Tristan des Thomas, die Anlage zum zier-
lichen Stil. Wie viel von eigener rhetorischer Schulung ein mhd.
Autor bei der Übertragung eines französischen Werkes hinzu-
brachte, wird nie restlos zu erkennen sein. Gotfrid hat seinen
französischen Gewährsmann, dem er stofflich genau folgte, an
Eleganz und Kunst übertroffen, in der sprachlichen Formgebung
hat er sich also größere Selbständigkeit bewahrt. Rudolf geht
wieder über sein Vorbild Gotfrid in der formellen Behandlung
hinaus. Hat er selbständig die prägnante Eigenart seines Meisters
zur Manier ausgebildet, indem er die von jenem schon vorge-
zeichneten Formen zum Muster nahm und übertrieb, erweiterte,
,,amplifizierte“ ? Oder hat er bei dieser Überspannung der Schmuck-
mittel sich wiederum nach einem lateinischen Meister gerichtet ?
Die Manier des Alanus war zu seiner Zeit beliebt; ein Beispiel,
wie sie wirkte, haben wir in den preziösen Künsten des Magisters
Heinrich von Isernia. Diese Mode hat auch Rudolf mitgemacht,
vielleicht unter unmittelbarer Anlehnung an Alanus.
Die Ars rhetorica war aber auch die Grundlage für die Kanzel-
beredsamkeit. Predigtstil und höfischer Erzählungsstil sind
darum miteinander verwandt, nur durfte die geistliche Sprache
nicht in die weltlichen Künsteleien ausarten. Maßvoll soll die
1 Burdach, Deutsche Renaissance, S. 14f.
2 Vgl. Kuno Francke a. a. O., Wilib. Schrötter a. a. 0.