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Friedrich Brie:
einer romantischen Vorzeit, überhaupt weniger um eine be-
sondere Veranlagung oder Richtung der Phantasie, sondern in
erster Linie um ein angeborenes, in der Konstitution wur-
zelndes Bedürfnis der Sinne nach etwas Farbigerem, Driften-
derem, Zügelloserem, Wildererem, Widerspruchsvollerem. Maß-
loserem, Übermenschlicherem und Schönerem, als die Gegenwart
bieten kann.
Diese Veranlagung der Sinne ist nicht wie eine rein phan-
tastische Veranlagung völlig unvereinbar mit verstandesgemäßer
Wesensart; so werden wir weiter unten ein merkwürdiges Beispiel
von Vereinigung rationalistischer und exotistischer Veranlagung bei
Stendhal kennen lernen. In vielen Fällen ist bei den Exotisten
mit Hyperästhesie eines oder mehrerer Sinne zu rechnen. Am
häufigsten begegnet sie bei dem Farbensinn und dem Geruchsinn,
von denen der letztere naturgemäß am schwersten zu befriedigen
ist. Wir werden sehen, welche Rolle gerade dieser Sinn bei den
Exotisten spielt und wie er vielfach hilft, die Richtung des Exotismus
nach dem Orient hin zu bestimmen. Die hohe Empfindlichkeit der
Sinne bewirkt weiter, daß die meisten Exotisten in geringerem oder
höherem Maße synästhetisch veranlagt sind und an den mannig-
faltigen Vermischungen von Farbe, Ton und Geruch Wohlgefallen
und Befriedigung empfinden.1 Diese Feinfühligkeit der Sinne be-
wirkt auch, daß der Exotist leicht in Gegensatz gerät zu den
Strömungen innerhalb der Romantik, die einseitig das Primitive,
Idyllische oder Phantastische betonen, vor allem mit der ganzen
mystisch-religiösen, phantastischen und wundergläubigen Welt des
Mittelalters. Der Exotist kann das Sinnlich-Antike und das Sinnlich-
Orientalische verstehen, aber nicht das Mystische, das innerliche
einsame Ringen oder die Gewissenskämpfe, kurz das Seelische im
christlichen Sinne. Wenn einer der Exotisten sich für das Mittel-
alter begeistert, so geschieht es gewöhnlich, wie etwa bei Gautier
zu Beginn seiner Entwicklung, ehe er seine eigentliche Veranlagung
erkennt, oder es handelt sich, wie gelegentlich bei Pater oder
Svdnburne, um ganz spezielle, leicht erkennbare Motive, etwa um
die „heidnische“ Seite des Mittelalters.2
1 Über die synästhetische Veranlagung einiger der von uns behandelten
Schriftsteller vergleiche die Arbeit von E. v. SIEB OLD, Synästhesien in der
englischen Dichtung des 19. Jahrhunderts (Engl. Studien 53, 1919).
2 Im übrigen ist das Verhältnis des einzelnen Exotisten zum Christen-
tum je nach Art seiner Veranlagung ein so verschiedenartiges, daß allgemeine
Gesichtspunkte sich ka'u'm ajufs;bellen lassen, Verhältnismäßig selten tritt der
Friedrich Brie:
einer romantischen Vorzeit, überhaupt weniger um eine be-
sondere Veranlagung oder Richtung der Phantasie, sondern in
erster Linie um ein angeborenes, in der Konstitution wur-
zelndes Bedürfnis der Sinne nach etwas Farbigerem, Driften-
derem, Zügelloserem, Wildererem, Widerspruchsvollerem. Maß-
loserem, Übermenschlicherem und Schönerem, als die Gegenwart
bieten kann.
Diese Veranlagung der Sinne ist nicht wie eine rein phan-
tastische Veranlagung völlig unvereinbar mit verstandesgemäßer
Wesensart; so werden wir weiter unten ein merkwürdiges Beispiel
von Vereinigung rationalistischer und exotistischer Veranlagung bei
Stendhal kennen lernen. In vielen Fällen ist bei den Exotisten
mit Hyperästhesie eines oder mehrerer Sinne zu rechnen. Am
häufigsten begegnet sie bei dem Farbensinn und dem Geruchsinn,
von denen der letztere naturgemäß am schwersten zu befriedigen
ist. Wir werden sehen, welche Rolle gerade dieser Sinn bei den
Exotisten spielt und wie er vielfach hilft, die Richtung des Exotismus
nach dem Orient hin zu bestimmen. Die hohe Empfindlichkeit der
Sinne bewirkt weiter, daß die meisten Exotisten in geringerem oder
höherem Maße synästhetisch veranlagt sind und an den mannig-
faltigen Vermischungen von Farbe, Ton und Geruch Wohlgefallen
und Befriedigung empfinden.1 Diese Feinfühligkeit der Sinne be-
wirkt auch, daß der Exotist leicht in Gegensatz gerät zu den
Strömungen innerhalb der Romantik, die einseitig das Primitive,
Idyllische oder Phantastische betonen, vor allem mit der ganzen
mystisch-religiösen, phantastischen und wundergläubigen Welt des
Mittelalters. Der Exotist kann das Sinnlich-Antike und das Sinnlich-
Orientalische verstehen, aber nicht das Mystische, das innerliche
einsame Ringen oder die Gewissenskämpfe, kurz das Seelische im
christlichen Sinne. Wenn einer der Exotisten sich für das Mittel-
alter begeistert, so geschieht es gewöhnlich, wie etwa bei Gautier
zu Beginn seiner Entwicklung, ehe er seine eigentliche Veranlagung
erkennt, oder es handelt sich, wie gelegentlich bei Pater oder
Svdnburne, um ganz spezielle, leicht erkennbare Motive, etwa um
die „heidnische“ Seite des Mittelalters.2
1 Über die synästhetische Veranlagung einiger der von uns behandelten
Schriftsteller vergleiche die Arbeit von E. v. SIEB OLD, Synästhesien in der
englischen Dichtung des 19. Jahrhunderts (Engl. Studien 53, 1919).
2 Im übrigen ist das Verhältnis des einzelnen Exotisten zum Christen-
tum je nach Art seiner Veranlagung ein so verschiedenartiges, daß allgemeine
Gesichtspunkte sich ka'u'm ajufs;bellen lassen, Verhältnismäßig selten tritt der