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Friedrich Brie:
Gegensätzen u. a. m. Bisweilen spielen für ihn auch schon
Länder wie Spanien oder Italien die Rolle des Orients. Eine
große Bedeutung kommt in seinen Augen der Jugend und Ur-
sprünglichkeit dieser Kulturen im Gegensatz zu der modernen
zu, wo das Individuum bedrückt durch die Last der Traditionen
zur Welt kommt. Der moderne Mensch mit der „alten Seele“
ist ein Lieblingsgegenstand der Exotisten. Wenn wir uns einer
bedenklich abgenutzten Terminologie bedienen wollen, so können
wir vielleicht sagen, daß der Exotist im1 allgemeinen an den ge-
nannten Kulturen die „dionysischen“ gegenüber den „apolli-
nischen“ Zügen sucht und steigert. Statt des Maßes sucht der
Exotist das Übermaß. Nero, Tiberius, Heliogabalos oder die
Borgias sind für ihn interessante und bewunderte Gestalten.
Daß seine Antike demgemäß nicht mehr viele Züge gemeinsam
hat mit der Antike der Klassizisten, ist selbstverständlich. Seine
Antike trägt mehr oder weniger orientalische Züge. Bezeich-
nenderweise sind für ihn Schriftsteller wie Apulejus, Petronius,
Tacitus, Juvenal, Lampridius oder Sueton die eigentlichen Re-
präsentanten der Antike. Schon auf der Schule pflegt, sich das
Interesse der Exotisten diesen statt den herkömmlichen Schul-
autoren zuzuwenden. Auch der Hang des Exotisten zum Gro-
tesken, Geheimnisvollen und Schaurig-Schönen, den die Gegen-
wart nicht befriedigen kann, weist ihn auf Antike und Orient
hin. Von hier stammt sein Interesse für die geheimnisvollen
Länder wie Ägypten, Indien oder China, für die geheimnisvollen
Ströme wie den Nil oder den Ganges, für den geheimnisvollen
Hermaphroditen Griechenlands so gut wie für die Mumien und
die geheimnisvollen Hieroglyphen Ägyptens.5
Eine unabweisbare Folge des einseitigen und übertriebenen
Bildes, das sich der Exotist vom Orient entwirft, ist die Er-
scheinung, daß die scheinbare Erfüllung seiner Sehnsucht, der
Aufenthalt im Orient, ihm keine Befriedigung bringen kann.
So sehr es die Exotisten nach einer Flucht in den Orient drängt,'
keiner von ihnen fühlt während des Aufenthaltes dort, seine
Sehnsucht wirklich gestillt. So paradox es klingt, der Schrift-
5 Bemerkenswert ist auch das starke Interesse der Exotisten für die
Visionen in der bildenden Kunst bei Piranesi oder Fuseli (Fuessb). Ob
Piranesi’s Carceri wirklich Fiebervisionen sind, wie schon Goleridge annahm,
ist zweifelhaft (vgl. DE QUINCEY, Confessions of an English Opium-Eater, in
dem Kapitel The Pains of Opium).
Friedrich Brie:
Gegensätzen u. a. m. Bisweilen spielen für ihn auch schon
Länder wie Spanien oder Italien die Rolle des Orients. Eine
große Bedeutung kommt in seinen Augen der Jugend und Ur-
sprünglichkeit dieser Kulturen im Gegensatz zu der modernen
zu, wo das Individuum bedrückt durch die Last der Traditionen
zur Welt kommt. Der moderne Mensch mit der „alten Seele“
ist ein Lieblingsgegenstand der Exotisten. Wenn wir uns einer
bedenklich abgenutzten Terminologie bedienen wollen, so können
wir vielleicht sagen, daß der Exotist im1 allgemeinen an den ge-
nannten Kulturen die „dionysischen“ gegenüber den „apolli-
nischen“ Zügen sucht und steigert. Statt des Maßes sucht der
Exotist das Übermaß. Nero, Tiberius, Heliogabalos oder die
Borgias sind für ihn interessante und bewunderte Gestalten.
Daß seine Antike demgemäß nicht mehr viele Züge gemeinsam
hat mit der Antike der Klassizisten, ist selbstverständlich. Seine
Antike trägt mehr oder weniger orientalische Züge. Bezeich-
nenderweise sind für ihn Schriftsteller wie Apulejus, Petronius,
Tacitus, Juvenal, Lampridius oder Sueton die eigentlichen Re-
präsentanten der Antike. Schon auf der Schule pflegt, sich das
Interesse der Exotisten diesen statt den herkömmlichen Schul-
autoren zuzuwenden. Auch der Hang des Exotisten zum Gro-
tesken, Geheimnisvollen und Schaurig-Schönen, den die Gegen-
wart nicht befriedigen kann, weist ihn auf Antike und Orient
hin. Von hier stammt sein Interesse für die geheimnisvollen
Länder wie Ägypten, Indien oder China, für die geheimnisvollen
Ströme wie den Nil oder den Ganges, für den geheimnisvollen
Hermaphroditen Griechenlands so gut wie für die Mumien und
die geheimnisvollen Hieroglyphen Ägyptens.5
Eine unabweisbare Folge des einseitigen und übertriebenen
Bildes, das sich der Exotist vom Orient entwirft, ist die Er-
scheinung, daß die scheinbare Erfüllung seiner Sehnsucht, der
Aufenthalt im Orient, ihm keine Befriedigung bringen kann.
So sehr es die Exotisten nach einer Flucht in den Orient drängt,'
keiner von ihnen fühlt während des Aufenthaltes dort, seine
Sehnsucht wirklich gestillt. So paradox es klingt, der Schrift-
5 Bemerkenswert ist auch das starke Interesse der Exotisten für die
Visionen in der bildenden Kunst bei Piranesi oder Fuseli (Fuessb). Ob
Piranesi’s Carceri wirklich Fiebervisionen sind, wie schon Goleridge annahm,
ist zweifelhaft (vgl. DE QUINCEY, Confessions of an English Opium-Eater, in
dem Kapitel The Pains of Opium).