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Brie, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1920, 3. Abhandlung): Exotismus der Sinne: eine Studie zur Psychologie der Romantik — Heidelberg, 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.37770#0009
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Exotismus der Sinne.

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Schöne und Auserlesene auch in einem gewissen Zwiespalt zu
den Anschauungen und Interessen seiner Umgebung lebt. Daraus
erklärt es sich, daß die Mehrzahl der Exotisten gleichzeitig
Ästheten sind oder wenigstens in mehr oder minderem Grade die
Eigenschaften des Ästheten aufweisen, feinste Erregbarkeit der
Sinne, den Hang zur vita contemplativa, den haine de bourgeois
und die Wertschätzung der Kunst um ihrer selbst willen. Daß
der Exotist aber nicht etwa als eine bloße Spielart des Ästheten
anzusehen ist3, lehren allein schon Erscheinungen wie Stendhal
oder Coleridge. Nur die Vorbedingung, die gesteigerte Empfäng-
lichkeit der Sinne, ist die gleiche.
Nach der gewöhnlichen, wenig glücklichen Einteilung, die
von Theophile Gautier herstammt4, spricht man von einem Exotis-
mus des Raumes und der Zeit, je nachdem-die Neigung des
Exotisten sich fernen Zeiten, vor allem Antike und Renaissance,
oder fernen Ländern, d. h. dem Orient, zuwendet. Durch seine
Sinne auf diese Kulturen hingelenkt, sucht der Exotist durch
Versenkung in sie sich eine Befriedigung zu verschaffen, die
ihm die Gegenwart nicht bieten kann. Ein wesentlicher Punkt,
dabei ist, daß das Bild, das sich der Exotist von Altertum und
Orient macht, lediglich ein Wunschbild ist, das er sich zum
größten Teile nach seinen Neigungen auswählt oder konstruiert.
Im allgemeinen geht die Konstruktion in der Weise vor sich,
daß der Exotist bestimmte Züge der betreffenden Kulturen, die
mit seiner Veranlagung harmonieren, ins Ungemessene steigert
oder verallgemeinert, so die Farbenpracht, den Luxus, den Gold-
prunk, den Edelsteinglanz, die Wohlgerüche, die Anbetung der
rein sinnlichen Schönheit, die freien Sitten, die ungebrochenen
Instinkte und Leidenschaften, die Möglichkeiten zur Befriedigung
von Wollust und Grausamkeit, das ruhige Nebeneinander von

3 Vgl. CASSAGNE, La Theorie de hart pour l’art en France, Paris 1906,
S. 373. CassUgne, der sich S. 773ff. eingehend mit dem Exotismus in Frank-
reich beschäftigt, faßt ihn einseitig auf als Teil der Bewegung des l’art poiur
l’art und sieht in der Hinneigung der Exotisfcein z'u Ahtike und Orient eito
zielbewußte Tendenz: L’exotiisme est un moyen avpntageux de donner satis-
faction ä la fois au goüt de l’originalite, de l’outrance, de l’etrangete, du pittores-
que d’une part, et au besoin d’exactitude et de verite d’autre part, cjui( sont
les earacteres importamts, mais non toujours aises ä concilier de l’art pour
l’art. — Der Begriff des Exotismus, den wir voraus setzen, ist demgemäß ein
wesentlich anderer als der von Cassagne.
4 GONCOURT, Journal, unter 1863.
 
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