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Brie, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1920, 3. Abhandlung): Exotismus der Sinne: eine Studie zur Psychologie der Romantik — Heidelberg, 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.37770#0011
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Exotismus der Sinne.

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steiler, dem der Aufenthalt im Orient wirklich das Verlangen
seiner Sinne stillte, wäre kein Exotist. Erst nach der Rück-
kehr, in der Erinnerung, wird der Orient dein Exotisten wieder
zum Paradies. Hier liegt die Tragik des Exotismus beschlossen:
Die Sehnsucht der Sinne ist so stark und mannigfaltig, daß
eine Befriedigung nicht in der Wirklichkeit, sondern nur durch
die Phantasie stattfinden kann; demgemäß leben die Exotisten
von der- Fata Morgana eines Altertums und eines Orients von
ungetrübter Herrlichkeit. Da aber die Phantasie die Forderungen
der Sinne nicht auf die Dauer zum Schweigen bringen kann,
da es für das tiefste Leben der Sinne schlechterdings kein Ge-
nüge gibt, liegt hier ein unlösbarer Konflikt vor. Da das Be-
dürfnis der Sinne das Entscheidende ist, ist weiterhin klar, daß
niemanden eine bloße Liebe zu Antike oder Orient, noch eine
noch so intensive Beschäftigung mit Antike oder Orient, die nur
auf intellektuellen, künstlerischen oder sentimentalen Interessen
beruht, noch weniger natürlich der bloße Hang zum Opium oder
Haschich zum Exotisten macht. Das äußere Interesse eines
Schriftstellers, der zu Orient und Antike sich hingezogen fühlt
und sich literarisch mit ihnen befaßt, hat trotz mancher unver-
meidlicher Berührungspunkte mit unserer Auffassung von Exo-
tismus nichts zu tun. Bei der Vieldeutigkeit des Ausdrucks
„Exotismus“ glauben wir auch noch besonders betonen zu
müssen, daß Neo-Hellenismus an und für sich noch nichts mit
Exotismus zu tun hat. Dichter wie Southey oder Shelley, Hugo
oder Müsset, v. Hammer oder Hölderlin sind trotz aller Liebe
zu Antike oder Orient keine Exotisten. Die Maler des roman-
tischen Orients, wie Delacroix und Fromentin, und die zahl-
reichen Schriftsteller des späteren 19. .Jahrhunderts, die ihrer
Sehnsucht nach dem Orient und besonders nach der Antike
gelegentlichen Ausdruck verliehen haben, müssen unberücksich-
tigt bleiben, vor allem der lange Chor der Dichter von Schiller
und Heine bis zu Lenau, Sully Prudhomme, Anatole France oder
Gerhart Hauptmann, die gelegentlich einmal den entschwundenen
Göttern Griechenlands nachtrauern. Wie wenig ein äußerlicher
Zusammenhang mit dem Orient etwas mit Exotismus zu tun hat,
sehen wir sehr deutlich auch an der englischen Literatur, wo
die exotistischen Erscheinungen ganz unabhängig auftreten von
der Tatsache, daß England enger und mannigfaltiger als irgend-
ein anderes Land mit dem Orient, vor allem mit Indien, ver-
 
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