Metadaten

Brie, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1920, 3. Abhandlung): Exotismus der Sinne: eine Studie zur Psychologie der Romantik — Heidelberg, 1920

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.37770#0018
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
18

Friedrich Brie:

reich, auch in Deutschland exotistische Erscheinungen hervor-
gebracht, die aber für das Verständnis und die Entwicklung des
Exotismus nichts Neues ergeben. In Italien ließ die naive
Stellung des Volkscharakters gegenüber dem Leben und der
Welt der Sinne Erscheinungen wie den ennui und den Exotismus
zunächst überhaupt nicht aufkommen. Die modernen Vertreter
des Exotismus in Italien, voran D’Annunzio, sind, wie in allen
Ländern, zumeist literarische Nachfolger der französischen Exo-
tisten. Die auffallende Tatsache von der geringen Beteiligung
der deutschen Romlantik läßt sich wohl einmal daraus erklären,
daß die deutsche Romlantik durchaus religiös und metaphysisch
orientiert war, zum anderen dadurch, daß sie durch ihren opti-
mistischen, weltberjahenden Zug während ihres ganzen Verlaufes
den Zusammenhang mit der Nation und dem Bürgertum in viel
stärkerem Maße aufrecht erhalten hat als die französische oder; die
englische. Aus demselben Grunde hat sich auch innerhalb der
deutschen Romantik ein eigentlicher Ästhetizismus mit seinen
Begleiterscheinungen des haine de bourgeois und der Abneigung
gegen Staat, Politik, Religion oder Wissenschaft nicht recht ent-
wickeln können, während bezeichnenderweise die Mystik reiche
Blüten trieb. Wenn ein Romantiker wie Friedrich Schlegel siich
gelegentlich für die glänzenden Verbrechen einer Olympias be-
geistert oder für die Laster Roms, „gegen welche die besten
Tugenden der Barbaren kindisch und schwächlich“ erscheinen,
so handelt es sich da nur um ein ästhetisches Spiel, um roman-
tische Wandlungsfähigkeit, die sich gelegentlich für jede Art von
Leidenschaft begeistert. Ein harmlos-poetischer, vielleicht sogar
etwas philiströser Zug ist selbst in dein1 Schriften (so extrem roman-
tisch veranlagter Schriftsteller wie Jean Paul oder E. Th. Hoffmann
unverkennbar. Eine gewisse Rolle mag auch noch der Umstand
spielen, daß unter dem Einfluß von Winckelmami der deutsche
Klassizismus und unter dessen Einfluß wiederum die deutsche
Romantik in der Antike im wesentlichen nur den „apollinischen“
Zag sah. Ein Nachteil dürfte, vom ästhetischen Standpunkt aus
gesehen, der deutschen Literatur aus dem Fehlen der exo-
tistischen Erscheinungen nicht erwachsen sein.
Bezeichnenderweise ist es der dem Bürgertum feindselig
gegenüberstehende „Sturm und Drang“, der den einzigen Ver-
treter des Exotismus in der deutschen Literatur, Johann Jakob
Wilhelm Heinse (1749—1803), hervorgebracht hat. Waren doch
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften