Metadaten

Brie, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1920, 3. Abhandlung): Exotismus der Sinne: eine Studie zur Psychologie der Romantik — Heidelberg, 1920

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.37770#0036
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
36

Friedrich Brie:

Träumen ihm die höchste Lust bedeutet habe. Er liebte es,
sich das Weltall als einen großen Traum auszumalen und die
Träume als die eigentliche Wirklichkeit anzusehen. Seine Dich-
tung „Heureka“ widmete er „allen, die an Träume als an die
einzigen Wirklichkeiten glauben“. Auch die Helden seiner exo-
tistisch gefärbten Erzählungen, die sämtlich in den dreißiger
und vierziger Jahren entstanden sind, sind dementsprechend gern
Träumer, die in einer unwirklichen Welt leben. In Berenice (1835)
bemerkt Egaeus von sich: The realities of the world affected me
äs visions, and as visions only, while the wild ideas of the land
of dreams became, in turn, not the material of my cvery-day
existence, but in very deed tliat existenoe utterly and solely in
itself.
Soviel sich auf Grund des vorliegenden Materials aussageu
läßt, gelangt Poe zu diesen Visionszuständen teils durch bloßen
Willensentschluß, teils durch den Gebrauch von Alkohol und
Opium. In den einzelnen Fällen ist es naturgemäß oft schwer
zu unterscheiden, ob die Schilderung der tranceähnlichen Zu-
stände etwas mit dem Genuß narkotischer Mittel zu tun hat
oder nicht, so bei der oft zitierten Schilderung, die Egaeus in
Berenice von sich selbst gibt: „Lange Stunden ohne Ermüden
dahinzuträumen, wobei meine Aufmerksamkeit geheftet ist an
irgendeine unbedeutende Randzeichnung oder an die Buch-
staben eines Buches; den besseren Teil eines Sommertages ab-
sorbiert zu sein in einem seltsamen Schatten, der schräg auf den
am Boden liegenden Teppich fällt; für eine ganze Nacht mich
zu verlieren im Beobachten der unveränderlichen Flamme einer
Lampe auf der Asche eines Feuers; ganze Tage über dem Ge-
ruch einer Blume zu träumen; ein gewöhnliches Wort eintönig
zu wiederholen, bis sein Klang infolge der häufigen Wieder-
holung aufhört, dem Geiste irgendeine Idee zu vermitteln; jedes
Gefühl der Bewegung oder körperlichen Existenz zu verlieren
durch hartnäckig verfolgte körperliche Ruhe: das waren einige
der gewöhnlichsten und am wenigsten schädlichen Einfälle auf
Grund einer geistigen Veranlagung, die zwar nicht gänzlich ohne
Parallele war, aber doch jeder Analyse oder Erklärung spottete.“
Zweifellos stimmen die hier geschilderten Zustände eng überein
mit dem Zustand der beseligenden Versunkenheit und „Körper-
losigkeit“, die uns bei Coleridge und andern Anhängern des
Opiums begegnet; dennoch würde man eine Entscheidung kaum
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften