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Friedrich Brie:
Christentums erkennt er noch am ehesten die katholische Kirche
zur Zeit Leos X. ,an, aus dem einfachen Grunde, weil sie in
seinen Augen ein heidnisches Gepräge trug.
In seinen exotistischen Neigungen berührt sich Stendhal,
der seiner ganzen Veranlagung nach sich als Gegner der Ro-
mantik betrachten mußte, mit den späteren romantischen Exo-
tisten. Wie nahe er diesen trotz laller Unterschiede steht und wie
stark das innere Band ist, das die französischen Exotisten unter-
einander verknüpft, zeigt sich vor allein in der ihnen fast allen
gemeinsamen Ablehnung des spezifisch Christlichen, besonders
des katholischen Mittelalters, das für die anderen Romantiker,
voran einen Chateaubriand und Müsset, eine Grundlage der
Kultur bedeutete. Ein gewisses, bald stärker, bald schwächer
wahrnehmbares rationalistisches Element bleibt im Grunde das
gemeinsame Wahrzeichen der französischen Exotisten gegenüber
den anderen Romantikern. Auf die exotistischen Motive, die
diese, auch ein Chateaubriand oder Müsset, gelegentlich in ihren
Werken aufweisen, brauchen wir nicht einzugehen, da sie ihrer
letzten Veranlagung nach keine Exotisten sind. Erst der junge
Theophile Gautiei: (1811 —1872), der an Rücksichtslosigkeit
alle früheren Exotisten weit überbietet, ist, ohne stärker auf
Stendhal zu fußen, der nächste Fortsetzer und zugleich schon
der Klassiker des französischen Exotismus. Er und seine Nach-
folger bringen gegenüber Stendhal als neues wichtiges exo-
tistisches Element den „Orientalismus“, und zwar in einer
Form, die sich stark von den orientalischen Neigungen der angel-
sächsischen Exotisten unterscheidet. Während für die englischen
Exotisten der Orient trotz des Besitzes von Indien und trotz der
zahllosen, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen ledig-
lich ein phantastisches Wunschgebilde blieb, wußten die fran-
zösischen Exotisten, wie schon vorher Victor Hugo, aus den
Berührungen Frankreichs mit dem Orient literarischen Ge-
winn zu ziehen. Der afrikanische Kontinent lag unmittel-
bar vor ihren Toren und war ihnen näiher als vorher gerückt
durch den napoleonischein Feldzug nach Ägypten. In den süd-
lichen Häfen Frankreichs erblickten sie dauernd ein Stück Orient
vor sich und selbst in der Pariser Gesellschaft begegneten sie
Menschen von orientalischer Herkunft und orientalischen Sitten.
Für sie als Südländer existierte auch nicht jene gesellschaftliche
Absonderung von den orientalischen Rassen, die der Angelsachse
Friedrich Brie:
Christentums erkennt er noch am ehesten die katholische Kirche
zur Zeit Leos X. ,an, aus dem einfachen Grunde, weil sie in
seinen Augen ein heidnisches Gepräge trug.
In seinen exotistischen Neigungen berührt sich Stendhal,
der seiner ganzen Veranlagung nach sich als Gegner der Ro-
mantik betrachten mußte, mit den späteren romantischen Exo-
tisten. Wie nahe er diesen trotz laller Unterschiede steht und wie
stark das innere Band ist, das die französischen Exotisten unter-
einander verknüpft, zeigt sich vor allein in der ihnen fast allen
gemeinsamen Ablehnung des spezifisch Christlichen, besonders
des katholischen Mittelalters, das für die anderen Romantiker,
voran einen Chateaubriand und Müsset, eine Grundlage der
Kultur bedeutete. Ein gewisses, bald stärker, bald schwächer
wahrnehmbares rationalistisches Element bleibt im Grunde das
gemeinsame Wahrzeichen der französischen Exotisten gegenüber
den anderen Romantikern. Auf die exotistischen Motive, die
diese, auch ein Chateaubriand oder Müsset, gelegentlich in ihren
Werken aufweisen, brauchen wir nicht einzugehen, da sie ihrer
letzten Veranlagung nach keine Exotisten sind. Erst der junge
Theophile Gautiei: (1811 —1872), der an Rücksichtslosigkeit
alle früheren Exotisten weit überbietet, ist, ohne stärker auf
Stendhal zu fußen, der nächste Fortsetzer und zugleich schon
der Klassiker des französischen Exotismus. Er und seine Nach-
folger bringen gegenüber Stendhal als neues wichtiges exo-
tistisches Element den „Orientalismus“, und zwar in einer
Form, die sich stark von den orientalischen Neigungen der angel-
sächsischen Exotisten unterscheidet. Während für die englischen
Exotisten der Orient trotz des Besitzes von Indien und trotz der
zahllosen, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen ledig-
lich ein phantastisches Wunschgebilde blieb, wußten die fran-
zösischen Exotisten, wie schon vorher Victor Hugo, aus den
Berührungen Frankreichs mit dem Orient literarischen Ge-
winn zu ziehen. Der afrikanische Kontinent lag unmittel-
bar vor ihren Toren und war ihnen näiher als vorher gerückt
durch den napoleonischein Feldzug nach Ägypten. In den süd-
lichen Häfen Frankreichs erblickten sie dauernd ein Stück Orient
vor sich und selbst in der Pariser Gesellschaft begegneten sie
Menschen von orientalischer Herkunft und orientalischen Sitten.
Für sie als Südländer existierte auch nicht jene gesellschaftliche
Absonderung von den orientalischen Rassen, die der Angelsachse