Metadaten

Brie, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1920, 3. Abhandlung): Exotismus der Sinne: eine Studie zur Psychologie der Romantik — Heidelberg, 1920

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.37770#0076
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
76

Friedrich Brie:

für die gedämpften Töne läßt ihn den starken sinnlichen Werten
aus dem Wege gehen oder sie wenigstens nur so weit erfassen,
als sie seinem Hang zum Seltsam-Schönen entsprechen. Immer-
hin übernimmt er gelegentlich doch von den früheren Exotisten
Anregungen, die über das rein ästhetische Interesse hinausgehen.
Für seinen Exotismus wie für seine hart pour l’art-Theorie er-
hielt er in den Jahren 1867/68 aus den Werken von Swinburne
und aus dem Kreis der Maler und Schriftsteller um Swinburne
entscheidende Anstöße.144 Dazu kam der Einfluß derselben fran-
zösischen Vorbilder, denen auch Swinburne sich angeschlossen
hatte. Im Einklang mit seinem Ausspruch, daß der Zweck seiner
Lebensarbeit die Verlebendigung der Schönheit vergangener
Epochen sei, finden wir bei ihm Anzeichen von Exotismus in
seiner eigenartigen Auffassung und Bewertung von Antike und
Renaissance. In seinen frühen Schriften erkennt er neben dem
Schönen im „apollinischen“ Sinne, das ihm vor allem das Stu-
dium Winckelmanns vermittelt hatte, an beiden Kulturen auch
den „dionysischen“ Zag an; so scheut er sich nicht, das Leben
in Mailand zur Zeit Leonardos als a life of brilliant sins and ex-
quisite amusements zu bezeichnen.145 Am deutlichsten zutage tritt
der exotistische Zug in der berühmten Beschreibung der Gioconda
in idemselbein Aufsatz, wo der lover of stränge souls, wie Pater sich
hier selbst nennt, zum Ver herrlicher der „dionysischem“ Kulturen
von Griechenland, Rom und der Renaissance ganz in der Art
von Swinburne wird. Mona Lisa wird hier symbolisch aufge-
faßt als ein von Urzeiten her existierendes mythisches Wesen,
das in immer neuen Formen wiedererstanden ist und dem die ein-
zelnen großen Kulturen der Menschheitsgeschichte sowie die Ge-
heimnisse der Gräber etwa von ihrem Geiste mitgegeben haben;
auf diese Weise haben sie dazu beigetragen, Mona Lisas äußere
Erscheinung Zelle um Zelle mitzuformen. Das ist eine Wider-
spiegelung jener Mythologisierungen und Metempsychosen, die
wir in Swinburnes Faustine und Dolores kennen gelernt haben,
verbunden mit einem Gedanken, den er vielleicht aus Gautiers
Etüde des Mains entnahm, daß die Leidenschaften und Laster
vergangener Zeiten, mithin etwas Geistiges, sich sichtbar in etwas

144 Vgl. dazu WRIGHT, The Life of Walter Pater (1907), I 230.
145 Leonardo da Vinci (1869). Später auf genommen in The Renaissance
(1873).

i
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften