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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0064
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Gerhard Ritter:

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in den Dingen extra animam gibt es nicht „wahr und falsch“* 1. Aber
auch die komplexen Begriffsbildungen, soweit sie es mit der Kom-
bination und Trennung von Einzelbegriffen zu tun haben, die aus
sinnlicher Erfahrung herstammen, erhalten ihre Begründung aus
dem sachlichen Verhältnis der außermentalen Dinge untereinander
(ex correspondentia rei qualis per conceptum representatur): der
Knabe, der seine Mutter kommen sieht, bildet eine „naturgemäß“
richtige Kombination von Subjekt und Prädikat in dem Urteil:
„die Mutter kommt“2; jedes irrige Urteil dieser Art beruht auf
einer Kombination sachlich nicht zusammengehöriger Elemente.
Und umgekehrt beruht die Dichtigkeit des negativen Erfahrungs-
urteils darauf, daß es .Einzelbegriffe voneinander trennt, die nicht
als Prädikat und Subjekt desselben Urteils bestehen können, da
sie nicht pro eodem supponimi3.
Mit alledem befinden wir uns im Gebiet der „zufälligen Einzel-
wahrheiten“ der bloßen Erfahrung4. Anders steht es mit den
„allgemeinen Wahrheiten“, die aus der Abstraktion im höheren
Sinne hervorgehen, d. h. aus Allgemeinbegriffen kombiniert werden.
Für sie gilt die logische Evidenz. Es gibt nämlich eine Beihe von
derartigen Urteilen, die schlechthin „notwendig“ sind, ohne daß
es einer besonderen „Erklärung“ bedürfte; z. B. ist der Satz: „Es
gibt eine Substanz“ oder der Satz des Widerspruchs (als primum
principium5) keines Beweises bedürftig. Es sind die allgemeinsten
und obersten Inhalte der wissenschaftlichen Überlieferung, und
indem nun mit Hilfe des logischen Schlußverfahrens aus ihnen
weitere Sätze abgeleitet werden, entsteht „Wissenschaft“ im eigent-

[causam] corrupüvam in re. Ganz ähnlich in der sehr lehrreichen quaestw
8 des VI. Buches (Register nr. 44) art. 1, Bl. 79, b: Conceptus. . . primi sunt
veri, quod generantur a rebus mente vel. in mente.
1 qu. 42 art. 4, concl. 3, Bl. 78, a.
2 lib. II, qu. 1, art. 3, Bl. 13v.
3 1. c. lib. VI, qu. 7, Bl. 79, a.
4 1. c. lib. II, qu. 1, art. 3, Bl. 13, c: Prime veritates a nobis cog-
nite quoad tempus sunt propositiones singuläres contingentes, que cognoscuntur
mente sensu.
5 1. c. lib. IV, qu. 12 (Register 24). — Lib. sent. III, qu. 14, art. 1,
pars 3, dubium 1, concl. 1, prob. 5, Bl. 449, c erscheint der Satz des Wider-
spruchs als primum principium luminis naturalis in logischer und ontologi-
scher Fassung.
 
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