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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0066
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Gerhard Ritter:

sichten (suspicio), die ,,Ansicht“ (opinio), aus nur wahrscheinlich
gültigen Voraussetzungen logisch zwingend abgeleitet, und end-
lich das theologische Wissen, dessen formales Schlußverfahren der
,,natürlichen“ Wissenschaft entspricht, dessen oberste Grundsätze
aber nicht in sich evident, sondern durch den Glauben begründet
sind1. Auch hier läßt sich das Vorbild aristotelischer Sätze (Analytik
und Topik) deutlich erkennen. Und überhaupt ist ja das Wesent-
liche aus all diesen Einzelheiten die überlieferte Doppelpoligkeit
der peripatetischen Erkenntnislehre:Erfahrung und logische Gewiß-
heit, induktive und deduktive Methode sollen nebeneinander zur
Wahrheit führen2. Die Gültigkeit dieser obersten Prinzipien selbst
wird nicht als ein Problem empfunden. Wie sich ihr Ineinander-
wirken im einzelnen gestaltet, wie weit die Tragweite einerseits
der aus sinnlichen Wahrnehmungen abgezogenen Begriffe, zum
andern der rein logischen Einsichten reicht, das muß sich aus der
Betrachtung einmal der physikalischen, andererseits der meta-
physischen Arbeiten unseres Philosophen ergeben.
Soviel aber läßt sich jetzt schon erkennen, daß von irgend-
einem grundsätzlichen Zweifel oder einer Gleichgültigkeit des
Okkamisten gegenüber den Realitäten der Erfahrungswelt gar nicht
die Rede sein kann. An ihnen muß sich ja die Richtigkeit der nicht-
abstrakten Urteile bewähren! Es ist ein schwer begreifliches Miß-
verständnis dieser Erkenntnislehre, wenn man ihr nachsagt, sie
habe es verhindert, daß die Okkamisten ,,eine inhaltlich bestimmte
selbständige Wissenschaft von den res betrieben“3. Was verschlägt
es, daß die ,,Wissenschaft“ im strengen aristotelischen Sinne sich
auf Abstraktionen, auf Allgemeinbegriffen aufbaut, deren gegen-
seitiges Verhältnis sich nicht erfahrungsmäßig, sondern nur logisch
bestimmen läßt ? Oder ist etwa die Leugnung der außermentalen
Realität der Allgemeinbegriffe identisch mit der Leugnung der
außermentalen Realitäten überhaupt ? Innerhalb ihres Bereiches
1 lib. sent. I, qu. 2, art. 1, Bl. 11, a.
2 Ganz deutlich z. B. lib. sent. I, qu. 42, art. 2, Bl. 176, c. Der Intellekt
kann zustimmen his que cadunt: a) sub sensu et principiis, quorum noticiam
habet cum sensu; b) principiis notis ex implicatione evidenti veritatis in signi-
jicatione terminorum et conclusionibus, que ex lalibus possunt inferri. — Ähnlich:
lib. sent. II, qu. 1, art. 2, Bl. 205, b.
3 Hermelink Theolog’. Fakultät Tübingen, 105. Dagegen im wesent-
lichen richtig: Scheel I2, 184 — 9. Im einzelnen scheint mir die Scheelsche
Darstellung der Erfurter Erkenntnislehre nicht ganz klar; ist z. B. für Trut-
vetter wirklich der „komplexe“ Begriff früher als der „inkomplexe“? (p. 187).
 
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