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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0100
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Gerhard Ritter:

des modernen Trägheitsgesetzes anzusehen ist: die Lehre vom
impetus. Damit hängt eng zusammen die Theorie des Schwer-
gewichts.
Was ist das Wesen der Schwerkraft? Aristoteles hatte von
einem ,,natürlichen Orte“ aller Dinge gesprochen, an dem sie ohne
gewaltsame Ortsveränderung in Ruhe verharren und dem sie zu-
streben, sobald sie gewaltsam in eine andere Lage gebracht sind.
Für das Feuer ist der Umkreis des Flimmels, für die Erde das
Zentrum der Welt dieser „natürliche Ort“. In der Ausdeutung und
Fortbildung dieser Theorie standen sich innerhalb der Pariser
Schule in der Hauptsache zwei Auffassungen gegenüber. Die eine,
vor allem durch Okkam und Buridan vertreten, ging von der
physikalischen Irrealität des Punktes aus, verwarf demgemäß die
angebliche Anziehungskraft des Erdzentrums und betrachtete den
gesamten Umfang der Erdkugel als locus naturalis der Körper und
Sitz der Schwerkraft. Noch kühner faßte Nikolaus von Oresme,
in Fortbildung platonischer Ideen, den Begriff des Schweren als
reine Relation des Körpers zu seiner Umgebung und gelangte von
da aus zu Folgerungen, die in ihrer letzten Konsequenz die geo-
zentrische Welt Vorstellung zerstören und unmittelbar zu Köper -
nikus hinüber führen sollten. Weit konservativer war demgegen-
über die Lehre Alberts von Sachsen. Sie hielt daran fest, daß der
locus naturalis der Erde dann erreicht sei, wenn ihr Schwergewichts-
zentrum mit dem des Universums zusammenfällt. In der Bewegung
auf diesem Punkt äußert sich ihre eigene Schwere; alles Schwere,
losgelöst von der Erdkugel, strebt nach diesem Punkte1.
Auch Marsilius erklärt das Zentrum der Welt für den natür-
lichen Ort der Erdkugel, und zwar in dem Sinne, daß sie dahin
strebt, ihr eigenes Schwergewichtszentrum unmittelbar mit dem
Weltzentrum zu vereinigen2. Sie befindet sich ununterbrochen in
absteigender Bewegung auf dieses Ziel hin, da beständig Schwan-
kungen ihres Schwergewichts eintreten3. Damit wird auf eine
höchst eigenartige Theorie der geologischen Vorgänge an-
gespielt, die Albert von Sachsen anscheinend selbständig ausge-
1 Duhem II, 59 ff., III, 23 ff.
2 abbrev. phys. 1. c., Bl. 31: Terra dicitur naturaliter collocari circa
centrum mundi immediate. Vgl. ferner die ff. Anm.
3 1. c. Bl. 72, a. (Terne k 3). Tota terra movetur continuo motu locali
descensus. . . quod continue centrum gravitatis terre est extra centrum mundi,
ergo continue descendit.
 
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