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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0099
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Studien zur Spätscholastik. I.

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tragung der Regel von der lokalen Bewegung auf den Wechsel
der Intensitäten war durch Nikolaus von Oresme — vielleicht
unter dem Einfluß gewisser Oxforder Theorien — schon früher
vollzogen worden1, und zwar mit Hilfe seines Koordinatensystems;
dieses System hatte es ihm ermöglicht, nicht nur solche Geschwin-
digkeiten zu erfassen, die in zeitlichem Nacheinander der Bewegung
unverändert bleiben (motus uniformis, regularis), sondern ebenso
die wechselnden Geschwindigkeiten ungleichförmiger Bewegungen
(motus dijformis, irregularis) in jedem Augenblick als wechselnde
Intensitäten der Geschwindigkeit aufzufassen und zu berechnen.
Und so war er zu der wichtigen Feststellung gelangt, die für das
Fallgesetz später bedeutend wurde, daß die Durchschnittsgeschwin-
digkeit einer gleichmäßig beschleunigten Bewegung sich darstelle in
dem mittleren Maße der erreichten Geschwindigkeiten, und dem-
nach der in einer solchen Bewegung durchlaufene Raum gleich sei
demjenigen, der in einer gleichförmigen Bewegung von derselben
Dauer mit der Geschwindigkeit des mittleren Zeitpunktes der ersten
Bewegung durchlaufen worden wäre. In dieser Form ist die Regel
in den besprochenen Schriften des Marsilius nicht auf gestellt;
als eine besonders deutliche Anspielung darf indessen die Dar-
legung angesehen werden, daß die Durchschnittsgewindigkeit eines
im zeitlichen Nacheinander mit gleichförmig wachsender Kraft
bewegten Körpers nach der Intensität der mittleren Geschwindig-
keit zu berechnen sei2.
Ohne sich die wertvolle Erkenntnis Oresmes anzueignen, hatte
gleichzeitig Albert von Sachsen die Entdeckung gemacht, daß die
Fallbewegung als eine gleichmäßig beschleunigte Bewegung an-
zusehen sei, deren Geschwindigkeiten sich durch Vergleichung mit
den durchmessenen Raum — bzw. Zeitstrecken bestimmen ließen.
Auch dieser Gedanke ist bei Marsilius nicht mit Sicherheit nach-
zuweisen. Dagegen entwickelt unser Autor in Übereinstimmung
mit den wichtigsten Häuptern seiner Schule ausführlich eine Theorie
zur Erklärung der Beschleunigung des Falles, die als Vorstufe
1 Jedenfalls vor 1370, Duhem III, 398.
2 abbrev. phys. lib. VII, 1. c. Bl. 66, b. (Terne i, Bl. 3) Potentia augeatur
per aliquod totum tempus. . . In tali casu manet. . . proportio [potentiae motive
supra resistentiam] dijformis, quae denominatur a proportione media; item non
manet eadem velocitas uniformis, sed dijformis correspondens etiam suo gradui
medio vel. alii, si non sit uniformiter dijformis. Bei Duhem III, 404, wie alle
Zitate, nur in französischer Übersetzung wiedergegeben.
 
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