Metadaten

Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0176
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
176

Gerhard Ritter:

Charakter zu nehmen. Streng genommen ist die Annahme eines
Verdienstes ausschließlich Sache Gottes. Nach seiner absoluten
Macht könnte er den Menschen auch ohne Erfüllung seiner Gebote
an nehmen, mit Rücksicht auf das Maß dessen, was der Erden-
pilger ex puris naturalibus zu leisten imstande ist1. Nun hat er
freilich in der Heilsordnung (de lege ordinata) die Erfüllung der
iustit a originalis, also die Innehaltung seiner Gebote verlangt.
Aber diese Aufgabe vermögen wir ja gar nicht zu leisten ohne seine
Hilfe. In jedem verdienstlichen Werke sind demnach drei Momente
zu unterscheiden: zuerst und als das wichtigste Stück die zuvor-
kommende Gnade, die unserm Willen eigentlich erst den Charakter
als gut verleiht; sodann der innere Entschluß des freien Willens,
der mit dieser Hilfe das Gute statt des Bösen wählt; und endlich
die Annahme dieser Leistung durch Gottes gnädigen, freien Willen2.
Nichts nötigt Gott zu dieser Annahme; die acceptatio selbst ist es,
die als principale (oder als formale) das Werk verdienstlich macht,
während die gratia preveniens und voluntas hominis in dieser Hin-
sicht nur als accessoria (bzw. materiale) erscheinen. Der mensch-
liche Wille ist überhaupt nur als Substanz (.entitas), also gewisser-
maßen als Schauplatz des Vorgangs zu betrachten, nicht als Ursache
des Verdienstes; Gott ist immer die causa principalior. Das ist
offenbar jene Unterscheidung, mit der Duns Skotus die relative
Verdienstlichkeit unserer Werke zu begründen versucht hatte3 4.
Aber die Absicht ist nicht, den Verdienstcharakter zu betonen,
sondern ihn abzuschwächen. Das zeigt sogleich die weitere Be-
trachtung.
Zunächst ist klar, daß von einer Verdienstlichkeit der rein
natürlichen Werke, die dem Sittengebot entsprechen, nicht die
Rede sein kann. Gottes Gnade ist ja nicht an ihnen beteiligt. Auch
von einem Verdienst, das, ohne einen Anspruch zu begründen,
doch den ewigen Lohn als angemessen erscheinen läßt (meritum de
congruo), kann nicht die Rede sein1; allenfalls kommt ein rein
zeitlicher (innerer oder äußerer) Lohn in Betracht5. Damit ist die
als semipelagianisch verschriene gegenteilige Lehre Okkams bewußt

1 1. II, cju. 18, a. 2, Bl. 297, a; 1. I, qu. 20, a. 3, concl. 8, Bl. 86, a.
2 1. II, qu. 17, a. 3, concl. 2, Bl. 292, b. Ebendort das Folgende.
3 Vgl. Seeberg, Dogmengesch. III3, 587.
4 1. II, qu. 18, a. 3, concl. 3, Bl. 299, c,
5 3. I, qu. 20, a. 3, prop. 6, Bl. 85, d.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften