Studien zur Spätscholastik. I.
175
Wie ein Seemann auf klippenreichem Meer, geschwächt und gehin-
dert an freiem Handeln, sein Fahrzeug wilden Stürmen preis-
gegeben sieht und zittern muß, weil er jeden Augenblick scheitern
kann, so ist der Mensch vor seiner Wiedergeburt im Sakrament1.
Es geschieht nur selten und dann nur dank besonderer Hilfe Gottes,
daß in solchem Zustand der freie Wille ausreicht, einmal eine
Klippe zu umsegeln. Mit einem andern Bilde: eine furchtbare Last
hat der natürliche Mensch stets mit sich umherzuschleppen. Kommt
nicht Hilfe von oben, so muß er notwendig auf die Dauer zusammen-
brechen.
Aber wenn denn alles auf die gnädige Hilfe Gottes ankommt,
warum dann diese prinzipielle Scheidung zwischen den beiden
Arten der Gnade ? Ist einmal das religiöse Interesse an der Allein-
wirksamkeit Gottes sichergestellt, indem auch die Gewissens-
regungen auf ihn zurückgeführt werden, so sollte man meinen, es
bedürfte nur der graduellen Steigerung dieser Gnadenhilfe, um den
Sünder ans Ziel gelangen zu lassen. Wozu dient die völlige Neu-
orientierung vermittels der ,,eingegossenen“ oder „rechtfertigen-
den“ Gnade? Die Sache erscheint in der Darstellung des Marsilius
um so rätselhafter, als bei ihm der sonst entscheidende Akt der
remissio culpae, mag diese nun mehr als Austreibung oder als Ver-
gebung gedacht sein, keine Erwähnung findet. Damit ist aber der
religiöse Charakter des Vorganges, der prinzipielle Unterschied
zwischen bloßer Sittlichkeit und religiöser Lebendigkeit, vollends
verwischt. Das persönliche Verhältnis zwischen dem Sünder und
Gott ist ganz juristisch gebunden an den sakramentalen Vorgang.
Die gratia gratum faciens ist von der Vorstufe darum zu unter-
scheiden, weil nur sie im Sakrament offiziell verliehen wird. Das
kommt auch zum Ausdruck in der Lehre von der Verdienstlich-
keit unseres Handelns, auf die sich das Hauptinteresse dieser
Theologie konzentriert.
Der Endzweck alles sittlichen Lebens ist die Verklärung des
Menschen in der Vereinigung mit Gott. Das Urteil über alle unsere
Handlungen muß sich letztlich danach richten, welchen Wert sie
im Hinblick auf dieses Ziel, d. h. welche Gestalt als „Verdienst“
sie besitzen. Das klingt sehr nach Werkgerechtigkeit. Aber die
theologische Ausführung setzt alles daran, dem „Verdienst“ diesen
1 1. c. Bl. 298, d bis 299, a. Ebendort ausführliche Schilderung von dem
aussichtslosen Kampf des Gewissens und der Vernunft gegen Leidenschaft,
Welt und Teufel.
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Wie ein Seemann auf klippenreichem Meer, geschwächt und gehin-
dert an freiem Handeln, sein Fahrzeug wilden Stürmen preis-
gegeben sieht und zittern muß, weil er jeden Augenblick scheitern
kann, so ist der Mensch vor seiner Wiedergeburt im Sakrament1.
Es geschieht nur selten und dann nur dank besonderer Hilfe Gottes,
daß in solchem Zustand der freie Wille ausreicht, einmal eine
Klippe zu umsegeln. Mit einem andern Bilde: eine furchtbare Last
hat der natürliche Mensch stets mit sich umherzuschleppen. Kommt
nicht Hilfe von oben, so muß er notwendig auf die Dauer zusammen-
brechen.
Aber wenn denn alles auf die gnädige Hilfe Gottes ankommt,
warum dann diese prinzipielle Scheidung zwischen den beiden
Arten der Gnade ? Ist einmal das religiöse Interesse an der Allein-
wirksamkeit Gottes sichergestellt, indem auch die Gewissens-
regungen auf ihn zurückgeführt werden, so sollte man meinen, es
bedürfte nur der graduellen Steigerung dieser Gnadenhilfe, um den
Sünder ans Ziel gelangen zu lassen. Wozu dient die völlige Neu-
orientierung vermittels der ,,eingegossenen“ oder „rechtfertigen-
den“ Gnade? Die Sache erscheint in der Darstellung des Marsilius
um so rätselhafter, als bei ihm der sonst entscheidende Akt der
remissio culpae, mag diese nun mehr als Austreibung oder als Ver-
gebung gedacht sein, keine Erwähnung findet. Damit ist aber der
religiöse Charakter des Vorganges, der prinzipielle Unterschied
zwischen bloßer Sittlichkeit und religiöser Lebendigkeit, vollends
verwischt. Das persönliche Verhältnis zwischen dem Sünder und
Gott ist ganz juristisch gebunden an den sakramentalen Vorgang.
Die gratia gratum faciens ist von der Vorstufe darum zu unter-
scheiden, weil nur sie im Sakrament offiziell verliehen wird. Das
kommt auch zum Ausdruck in der Lehre von der Verdienstlich-
keit unseres Handelns, auf die sich das Hauptinteresse dieser
Theologie konzentriert.
Der Endzweck alles sittlichen Lebens ist die Verklärung des
Menschen in der Vereinigung mit Gott. Das Urteil über alle unsere
Handlungen muß sich letztlich danach richten, welchen Wert sie
im Hinblick auf dieses Ziel, d. h. welche Gestalt als „Verdienst“
sie besitzen. Das klingt sehr nach Werkgerechtigkeit. Aber die
theologische Ausführung setzt alles daran, dem „Verdienst“ diesen
1 1. c. Bl. 298, d bis 299, a. Ebendort ausführliche Schilderung von dem
aussichtslosen Kampf des Gewissens und der Vernunft gegen Leidenschaft,
Welt und Teufel.