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Oncken, Hermann; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 2. Abhandlung): Die Utopia des Thomas Morus und das Machtproblem in der Staatslehre: Vortrag, gehalten in der Gesamtsitzung der Akademie am 4. Februar 1922 — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38035#0010
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10

Hermann Oncken:

Abschnittes zeigt, daß hier jedes Wort der Kritik von englischer
und europäischer Tagespolitik gesättigt ist, man möchte sagen, bis
in die Gegenstände der letzten Parlamentstagungen und in die
neuesten Depeschen vom kontinentalen Schauplatz hinein. Alles
atmet Wirklichkeit, in vorsichtiger, aber zugleich durchsichtiger Ver-
hüllung: es trägt den Stil eines klugen und aufrechtenStaatsmannes.
Die Brücke von dieser Wirklichkeit in das ideale Fabelland Uto-
pien bildet eine prinzipiell höchst bedeutsame Auseinandersetzung
zwischen dem praktischen Reformer Morus, der sich auf den Boden
dieser Wirklichkeit stellt und begrenzte Vorschläge zur Besserung
ihrer Zustände macht, und dem radikalen Idealisten Raphael, der
Utopien gesehen hat, darüber berichten wird und entschlossen ist,
aus dem utopischen Ideal alle Konsequenzen zu ziehen und die
Aufhebung des Privateigentums als das einzig durchgreifende Heil-
mittel zu fordern.
So ist das Buch in seiner vorliegenden Gestalt zu etwas ganz
anderem geworden. Morus hat es als Politiker, der von Politikern
gewürdigt werden wollte, vollendet; auf den Lordkanzler Wolsey,
seinen Gönner, wenn nicht auf König Heinrich VIII. selbst, hielt
er mitten im Spiel der humanistischen Ironie seinen Blick gerichtet.
Wir stehen also vor der Merkwürdigkeit, daß ein Buch, das ur-
sprünglich als kommunistisches Staatsideal einsetzte — und eben
als solches seinen literarischen Ruhm gewann —, als ganzes zu dem
praktisch-politischen Programm eines Mannes wird, der jeden Augen-
blick englischer Minister werden konnte: wie er denn auch im näch-
sten Jahrzehnt, nach dem Sturze Wolseys, tatsächlich als Lord-
kanzler die Staatsleitung übernommen hat. Das Buch ist später
zum Anführer eines Typus geworden, dem es sogar den Namen gab,
aber es ist selber in seinen letzten Absichten und seinem entschei-
denden Charakter nichts weniger als utopisch gerichtet. Es malt
ein phantastisches Fabelland, und ist dabei doch tief, wie schon
Erasmus erkannte, in dem Boden Englands verwurzelt und von
seinen politischen wie sozialen Bedürfnissen ausgelöst, es ist „wun-
dervoll englisch“, wie die Engländer selber sagen. Freilich lesen
sie es auch anders, vor allem den ersten Teil, und in dem zweiten
Teil die englischen Anspielungen, das nachträglich Hineingearbei-
tete — während man umgekehrt in den letzten Jahren in der
Schweiz den zweiten Teil isoliert drucken ließ. Es bedarf keines
Wortes, daß der wahre Sinn des Buches und die letzte Absicht des
Autors sich nur aus beiden zusammen ergeben. Erst in der Syn-
 
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