Die Utopia des Thomas Morus.
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Wenn somit jedes tiefere Eindringen in diesen Problemkreis
erweist, daß die naturgesetzten und die historisch erwachsenen Le-
bensbedingungen eines Volkes auch seinem Denken über den Staat,
zumal über das Machtproblem, die entscheidende Richtung zu geben
vermögen, so kann es nicht anders sein, als daß das deutsche Denken
über den Staat durch den ganz abnormen Verlauf der deutschen
Staatsentwicklung ungeheuer beeinflußt worden sein muß. Nur
unter diesem Gesichtspunkt kann man die Entwicklung der Staats-
lehre in Deutschland bis heute hin, Gesamtverlauf wie Einzelleistun-
gen, nach ihrem innersten Gehalte würdigen.
Das deutsche Denken über den Staat erwuchs auf dem Boden
eines Volkes, das seit dem späten Mittelalter den Staat als leben-
diges Organ des Gemeinsinns und als wirksame Vertretung der
nationalen Macht verloren hatte und nun darauf angewiesen war,
den Staat, von dem eine Leidensgeschichte von Jahrhunderten es
abgedrängt hatte, gewissermaßen von der Idee aus, mit höchster
Anstrengung zurückzugewinnen. So geschah es, daß dieses Denken
über den Staat von der Wirklichkeit des Lebens, wenn es sich nicht
auf die partikularen Ausschnitte beschränkte, immer weiter abge-
trieben wurde und zuletzt in die akademischen Schulstuben flüchtete,
wo es wenigstens seinem Sinn für die reine Abstraktion des Staates
an sich, des isoliert gedachten Staates ungestört nachgehen durfte.
Diese Denkvoraussetzung verriet eine um so stärkere Weltfremdheit,
als sie gerade für die Grundbedingung jedes deutschen Staates, ganz
gleich wie seine Form von innen her gedacht ward, am wenigsten
zutraf. Denn das deutsche Volk mit seiner Mittellage in Europa,
mit seinen rassenmäßigen und geographischen, kulturellen und mi-
litärischen Verzahnungen nach allen Seiten hin, unterstand geradezu
Lebensvoraussetzungen, die den äußersten Gegensatz etwa zu der
englischen Lage, und überhaupt zu der Präsumtion eines isoliert
zu denkenden Staates bildeten. Vielmehr mußte die Isolierung um
so widersinniger und weltfremder wirken, je mehr in der neueren
Zeit die Staatengesellschaft des übervölkerten Europa aneinander
gedrängt und damit der Druck auf die Mitte verstärkt wurde: ihre
Geschicke waren in diejenigen Europas schließlich unlöslich ver-
kettet.
Es ist bezeichnend, wie verschieden gerade die schicksals-
wichtigste dieser Verkettungen von den verschiedenen Völkern
beurteilt worden ist. Die französische Staatslehre, die seit dem
16. Jahrhundert, seit Jean Bodin, den Gedanken des souveränen und
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Wenn somit jedes tiefere Eindringen in diesen Problemkreis
erweist, daß die naturgesetzten und die historisch erwachsenen Le-
bensbedingungen eines Volkes auch seinem Denken über den Staat,
zumal über das Machtproblem, die entscheidende Richtung zu geben
vermögen, so kann es nicht anders sein, als daß das deutsche Denken
über den Staat durch den ganz abnormen Verlauf der deutschen
Staatsentwicklung ungeheuer beeinflußt worden sein muß. Nur
unter diesem Gesichtspunkt kann man die Entwicklung der Staats-
lehre in Deutschland bis heute hin, Gesamtverlauf wie Einzelleistun-
gen, nach ihrem innersten Gehalte würdigen.
Das deutsche Denken über den Staat erwuchs auf dem Boden
eines Volkes, das seit dem späten Mittelalter den Staat als leben-
diges Organ des Gemeinsinns und als wirksame Vertretung der
nationalen Macht verloren hatte und nun darauf angewiesen war,
den Staat, von dem eine Leidensgeschichte von Jahrhunderten es
abgedrängt hatte, gewissermaßen von der Idee aus, mit höchster
Anstrengung zurückzugewinnen. So geschah es, daß dieses Denken
über den Staat von der Wirklichkeit des Lebens, wenn es sich nicht
auf die partikularen Ausschnitte beschränkte, immer weiter abge-
trieben wurde und zuletzt in die akademischen Schulstuben flüchtete,
wo es wenigstens seinem Sinn für die reine Abstraktion des Staates
an sich, des isoliert gedachten Staates ungestört nachgehen durfte.
Diese Denkvoraussetzung verriet eine um so stärkere Weltfremdheit,
als sie gerade für die Grundbedingung jedes deutschen Staates, ganz
gleich wie seine Form von innen her gedacht ward, am wenigsten
zutraf. Denn das deutsche Volk mit seiner Mittellage in Europa,
mit seinen rassenmäßigen und geographischen, kulturellen und mi-
litärischen Verzahnungen nach allen Seiten hin, unterstand geradezu
Lebensvoraussetzungen, die den äußersten Gegensatz etwa zu der
englischen Lage, und überhaupt zu der Präsumtion eines isoliert
zu denkenden Staates bildeten. Vielmehr mußte die Isolierung um
so widersinniger und weltfremder wirken, je mehr in der neueren
Zeit die Staatengesellschaft des übervölkerten Europa aneinander
gedrängt und damit der Druck auf die Mitte verstärkt wurde: ihre
Geschicke waren in diejenigen Europas schließlich unlöslich ver-
kettet.
Es ist bezeichnend, wie verschieden gerade die schicksals-
wichtigste dieser Verkettungen von den verschiedenen Völkern
beurteilt worden ist. Die französische Staatslehre, die seit dem
16. Jahrhundert, seit Jean Bodin, den Gedanken des souveränen und