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Oncken, Hermann; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 2. Abhandlung): Die Utopia des Thomas Morus und das Machtproblem in der Staatslehre: Vortrag, gehalten in der Gesamtsitzung der Akademie am 4. Februar 1922 — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38035#0022
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Hermann Oncken:

zentralisierten Nationalstaates entwickelt hatte, wurzelte so tief in
dem Boden ihrer Nation, daß sie gleichzeitig die politische Theorie
von dem Berufe ihres deutschen Nachbarn zur höchstmöglichen
Dezentralisation mit Inbrunst pflegte. So zielbewußt ordnete sie
das Wesen einer fremden Existenz ihren eigenen Lebensbedingun-
gen als der maßgebenden Norm unter. Die Deutschen waren um-
gekehrt immer wieder geneigt, ihre eigene Existenz nach Abstrak-
tionen fremden Ursprungs zu modeln und darüber zu vergessen,
wodurch sich gerade ihre Existenz von der fremden unterschied.
Das tiefe Wort Bankes: „Was uns als Idee erscheint, ist häufig nur
die Abstraktion einer fremden Existenz“ ließe sich den deutschen
politischen Theorien des letzten Jahrhunderts manchmal mit einer
Wirkung entgegenhalten, die uns eigentlich sehr nachdenklich ma-
chen sollte.
Erst auf dem tiefsten Grunde ihrer Staatlosigkeit begannen
die Deutschen, aus dem Himmel der Theorie herabgestürzt, von
dem Boden ihrer vernichteten Wirklichkeit aus über die besondern
Problemstellungen ihres Staates, die Fragen von Macht und Recht,
vonlnnen undAußen, ernsthaft nachzusinnen. Es hat wahrlich seinen
tieferenSinn, daß man auf dem Gipfelpunkt der napoleonischenMacht
und der eigenen Zerrissenheit auch die Analogie,die in der italieni-
schen Denkvoraussetzung Machiavells lag, erkannte und in ihr die
Schicksalsverwandtschaft zu ahnen begann. Fichte und Clausewitz
sind die stärksten Repräsentanten dieser Wendung. Die Macht aber,
die Beziehung des Innen zum Außen im Staatsleben, konnte diesen
Menschen nicht als etwas erscheinen, was man übte wie die andern
und deswegen vielleicht zu rechtfertigen hatte, sondern als etwas,
was man nicht besaß, und eben darum als Ziel schlechthin leiden-
schaftlich ersehnte, ja sogar in der Form eines „Machtgedankens“,
wie er den wirklichen Machtträgern fremd war, zu verabsolutieren
versuchte.
Auf diesem Wege sollte der Staatslehre nicht eigentlich die
Führung zufallen. Aber wenigstens auf dem militärischen Teilgebiet
der politischen Theorie gelang es der wirklichkeitsgesättigten An-
schauung von Clausewitz, eine „Synthese realistischer und idealisti-
scher Kräfte“ hervorzubringen, der unsere Staatslehre als Ganzes
nichts gleichwertiges zur Seite zu stellen vermag. Er aber verschob
den Schwerpunkt der Betrachtung völlig von innen nach außen
und scheute sich nicht, die inneren Fragen als „faux frais“ (Neben-
kosten) der äußern Politik zu bezeichnen. Denn die Politik ist, so
 
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