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Oncken, Hermann; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 2. Abhandlung): Die Utopia des Thomas Morus und das Machtproblem in der Staatslehre: Vortrag, gehalten in der Gesamtsitzung der Akademie am 4. Februar 1922 — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38035#0023
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Die Utopia des Thomas Morus.

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urteilt dieser preußische General, „nichts an sich“, sondern sie ver-
einigt „alle Interessen der innern Verwaltung, auch der Menschlich-
keit und was der philosophische Verstand zur Sprache bringen
könnte; sie ist ein bloßer Sachwalter dieser Interessen gegen andere
Staaten.“ Damit ist theoretisch die schärfste Abkehr von der lebens-
fremden Abstraktion des isolierten Staates vollzogen. Wie sich
diese Wendung in der praktischen Anwendung ausdrückte, mag an
dem deutschen Verhalten gegenüber der polnischen Revolution von
1830/1 deutlich werden. Während die Liberalen von der innerpoli-
tischen Analogie der nationalen Bewegung auf beiden Seiten aus-
gingen und die polnischen Freiheitskämpfer begeistert begrüßten,
sah Clausewitz die polnischen Vorgänge in ihrem europäischen Zu-
sammenhänge: als ein Wiederaufleben der französischen Macht-
politik auf dem Kontinent, die im Falle des Gelingens das Antlitz
Rußlands nach dem Osten wenden und die deutsche Mitte wieder
unter allseitig verstärkten Druck nehmen mußte.
Die grundsätzliche Linie dieser Auffassung ist von Ranke
aufgenommen und fortgeführt worden. Er wußte der Lehre von dem
Primat der äußern Politik über die innere Politik eine Ergänzung aus
seiner universalhistorischen Anschauung zu geben und brachte in
der Geschichtschreibung seines reichen Lebens eine gleichsam ange-
wandte Staatslehre hervor, wie sie, einzig in ihrer Art, in ihrem letz-
ten Gehalte noch kaum zureichend bei uns gewürdigt wird. Mit
dem Primat der äußern über die innere Politik ist sodann die ent-
scheidende Einstellung gekennzeichnet, der Bismarck bei jedem
Schritte seiner Reichsgründung wie seiner Reichsleitung gefolgt ist:
was ihn schlechterdings hoch über alle andern erhob, war die rea-
listische Erkenntnis dieser innersten Lebensbedingung des deut-
schen Staates.
Der Erfolg hat immer die stärkste politische Erziehungswirkung
— kein Wunder, daß sich nunmehr in dem politischen Denken
des Deutschen eine auch von den andern Völkern aufmerksam be-
achtete Umbildung vollzog, die im Grunde nur den weiten geschicht-
lichen Vorsprung der Andern mit einem Satze nachholte. Daß bei
einem so raschen Umschlag in der Theorie wie in der Praxis
auch ein forciertes Überspannen des Machtgedankens unterlaufen
konnte, liegt auf der Hand. Jeder Versuch der theoretischen Ver-
absolutierung lief Gefahr, die Welt der Realitäten zu verlassen
und gleichzeitig der Kritik der anderen Völker eine empfind-
lichere Angriffsfläche zu bieten, als selbst die massivste macht-
 
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