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Oncken, Hermann; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 2. Abhandlung): Die Utopia des Thomas Morus und das Machtproblem in der Staatslehre: Vortrag, gehalten in der Gesamtsitzung der Akademie am 4. Februar 1922 — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38035#0024
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Hermann Oncken:

politische Praxis in einem konkreten Einzelfalle zu bieten
pflegt. Eine zugleich realistische und idealistische Staatslehre
ist den Deutschen in dem Zeitalter unseres neuen Reiches nicht
beschieden gewesen. Zumal in dem letzten Stadium des Weltkrieges
sollte der wiedererwachten rein innerpolitisch orientierten Ideo-
logie eine nur im Prinzip richtige, aber in der Anwendung verfälschte
Ideologie der Macht gegenüberstehen.
So konnte es kommen, daß man, nachdem unser Schicksal sich
erfüllt hatte, sich in manchen Lagern verführen ließ, auch jenen
ideellen politischen Erziehungsweg unserer Nation an dem ent-
scheidenden Punkte, der hier berührt worden ist, als einen Irrweg
erkennen zu wollen und sich zu einer Staatsbetrachtung zurück-
zuwenden, deren Prinzipien in dem Boden anderer Lebens- und
Denkvoraussetzungen als der unsrigen wurzeln: von neuem möchte
man angeblich allgemeingültige Werte in einem Staate an sich ver-
folgen und sich diesen Weg dadurch zu erleichtern suchen, daß man
das Recht der Macht, das Innere dem Äußern, das Sollen dem Sein
gegenüberstellt.
Ohne auf die besonderen Inhalte einer solchen Neuorientierung
einzugehen, läßt sich soviel sagen, daß sie rettungslos in die Irre
gehen würde, wenn sie die entscheidende Prämisse unserer staat-
lichen Existenz aus den Augen verlieren sollte. Jeder Blick in un-
sere politische Umwelt lehrt uns, daß unser Dasein als Nation un-
löslicher als je zuvor in die Bedingungen eines Machtzusammen-
hanges verflochten ist, an dem wir selber im Augenblick keinen An-
teil mehr besitzen; unser Schicksal ließe sich heute mit dem Para-
doxon kennzeichnen, mit dem Dilthey die bekannte Formulierung
Clausewitzens umgedreht hat: „der Friede selbst ist nur eine Fort-
setzung des Krieges mit andern Mitteln.“ Niemals hat sich unsere
Existenz weniger als isoliert denken lassen.
Da scheint es nicht an der Zeit zu sein, in dem entscheidenden
Prinzip der Staatslehre einen neuen Kurs einzuschlagen. Wer da
meint, ein solcher sei durch die veränderte Staatsform bedingt,
wird sich aus der Geschichte aller Völker und Zeiten belehren können,
daß die Grundgesetze des staatlichen Lebens sich jeder Form der
innern Verfassung zu unterwerfen pflegen. Wer da meint, eine neue
Epoche der Menschheit schaffe ganz neue Voraussetzungen staat-
lichen Lebens, der muß sich zunächst fragen, ob bei irgend einem
der großen und kleinen Völker, die ihr Selbst zu behaupten ver-
mögen, heute auch nur von einem Ansatz zu einer veränderten
 
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