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Ritter, Gerhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 7. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 2: Via antiqua und via moderna auf den deutschen Universitäten des XV. Jahrhunderts — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38041#0026
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26

Gerhard Ritter:

täten“ gehörte bekanntlich zu den Hauptzielen der okkamistischen
Lehre. Wie denkt sich nun Gerson die Auflösung dieses Schul-
streites? Alle Wissenschaft, sagt er, kann sich immer nur auf den
subjektiven Vorstellungen (rationes objectales), nicht auf den Dingen
selbst aufbauen. Diese Vorstellungen aber sind nur begriffliche,
nicht reale „Formen“ der Dinge (formae rerum non reales, sed inten-
tionales, conceptibiles vel intelligibiles). Es ist darum eine unbe-
gründete Voraussetzung, anzunehmen, daß den logischen Denk-
operationen, die der Intellekt mit den Vorstellungen vornimmt
(z. B. in der Abstraktion), ohne weiteres gewisse reale Veränderun-
gen oder Unterscheidungen in der Welt des objektiven Seins ent-
sprechen müßten — eine Voraussetzung, die ganz offenbar die
(skotistischen) „Formalisten“ zu Irrtümern verführt, indem sie
ihre logischen Distinktionen ohne weiteres als metaphysische Reali-
täten in der Welt der objektiven Dinge betrachten, nicht in erster
Linie als subjektive Denkgebilde; sie bauen ihre metaphysischen
Konstruktionen in die leere Luft, indem sie ihre Gedanken bilden
gewissermaßen ohne Rücksicht auf die Natur des Denkens1. Ander-
seits fehlt es nun aber den logischen Operationen des wissenschaft-
lichen Denkens keineswegs an jeder Beziehung zu den sachlichen
Verhältnissen der objektiven Welt. Diese wird vielmehr in der
suppositio personalis vermittelt, indem jeder Begriff als Zeichen
dient für eine durch ihn bezeichnete extramentale Wirklichkeit.
An dieser Stelle spielt die Lehre von der Supposition und den
modi significandi ihre Rolle; Gerson baut sie nicht ohne Verwer-
tung skotistischer Gedanken auf, mit der charakteristischen Ver-
mischung sprachlich-grammatischer und logischer Überlegungen,
die dem Terminismus eigen ist. Das wissenschaftliche Denken baut
sich in seinen letzten Elementen auf sprachlichen Bezeichnungen
des Gedachten auf. Jeder Sprachausdruck (dictio) kann aufgefaßt
werden entweder als bloßer Schall oder Schriftzeichen oder als
Objekt des Willens oder aber als „Bezeichnung“ (significatio).
1 Ens non mutatur in suo esse reali neque diversificatur per mulationem
vel diversitalem sui esse obiectalis. Et hic est lapsus volentium formalizare vel
metaphysicare in suo esse reali, secludendo illud esse, quod habent obiectale, quasi
si quis vellet intelligere sine intellectu vel ratiocinari sine ratione. Res enim non
ratiocinantur in seipsis, nee praescindunt, nec universalizantur, nec signantur,
nec abstrahunt, nec abstrahuntur, quoniam istae sunt operationes intellectus, non
rerum ipsarum — quamvis sint pro rebus huiusmodi operationes, secundum sup-
positionem personalem et quasi formalem, nec non ex parte rei, si ita placet, rei.
1. c. 822.
 
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