Studien zur Spätscholastik. II.
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haben werde, den Nominalismus in Paris gänzlich zu beseitigen.
Statt dessen hören wir gerade umgekehrt, daß von diesem Jahre
her1 die Erneuerung okkamistischer Lehren an der Universität
datiere.
Das erste Anzeichen neuer Kämpfe zwischen Nominalisten und
Realisten (so nennen sie sich auf diesem Boden selbst)2 stammt aus
dem Jahre 14653. Zu größter Erbitterung steigern sie sich 1473
bei der Wahl des Prokurators der gallischen Nation — also zu einer
Zeit, als der Gegensatz zwischen via moderna und antiqua an deut-
schen Universitäten längst bestand. Um so mehr muß es auf-
fallen, daß diese in Deutschland übliche Bezeichnung in den bisher
bekannt gewordenen Pariser Streitakten nicht ein einziges Mal
vorkommt. Sollten etwa auch sachlich die Gegensätze hier und
dort nicht genau dieselben sein ?4 Darüber wird erst der weitere
Verlauf unserer Untersuchung Klarheit bringen. Wichtig ist aber
hier schon die Beobachtung, daß den Anlaß zum Ausbruch des
Streites in Paris nicht eine Auseinandersetzung der Artistenschalen,
sondern eine theologische Streitfrage bildet. Wenigstens führen die
Nominalisten den Ausbruch des offenen Kampfes darauf zurück.
In dem Streit der Löwener Theologen de juturis contingentibus,
der sich um eine Spezialfrage bewegte, die zwischen Okkamisten
und Thomisten seit langem strittig war5, hatte die Löwener Uni-
1 Denkschrift von 1473: a 20 annis; entsprechend Edikt Ludwigs XI.:
1473, jan. 13, bei Bulaeus V, 707.
2 Und zwar ganz unbefangen (s. o. p. 31, N. 3). Das beweisen auch die
bei Prantl aufgezählten Titel in Frankreich erschienener Druckschriften von
Nominalisten; so auch die Physik des Mars. v. Inghen, Lyon 1518, secundum
nominalium cdam. Benary 49, N. 1 hat ganz Recht, diese Tatsachen mit
Prantls Hypothese, nominales sei durchaus und überall ein Schimpfname
gewesen, unvereinbar zu finden. In Heidelberg allerdings muß die Bezeich-
nung um 1499 einen verächtlichen Beigeschmack gehabt haben. Vgl. darüber
unten S. 76, N. 3.
3 Betr. Lehren des mag. Joh. Fabri, 1465, märz 19, Bulaeus V, 678.
4 Die Tatsache, daß der vielgenannte Heynlin vom Stein, der schon
1464 die via antiqua in Basel aufgebracht haben soll, 1473 in Paris auf seiten
der „Realisten“ steht, brauchte an sich noch nicht zu der Folgerung zu zwin-
gen, via antiqua und Pariser Realismus sei genau dasselbe gewesen.
5 Es handelt sich um den Streit zwischen dem Löwener thomistisch-
realistischen Artistenmagister Petrus de Rivo und dem dortigen okkamisti-
schen Theologen Henricus de Zomeren über die Frage, ob auch zukünftige
Zufallsereignisse in der göttlichen Voraussicht enthalten seien. Das war ein
von altersher beliebter Zankapfel zwischen Thomisten und Okkamisten:
Okkam stellte an diesem Punkte einen Widerspruch fest, wie er es liebte,
Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., philos.-hist. Kl. 1922. 7. Abh.
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haben werde, den Nominalismus in Paris gänzlich zu beseitigen.
Statt dessen hören wir gerade umgekehrt, daß von diesem Jahre
her1 die Erneuerung okkamistischer Lehren an der Universität
datiere.
Das erste Anzeichen neuer Kämpfe zwischen Nominalisten und
Realisten (so nennen sie sich auf diesem Boden selbst)2 stammt aus
dem Jahre 14653. Zu größter Erbitterung steigern sie sich 1473
bei der Wahl des Prokurators der gallischen Nation — also zu einer
Zeit, als der Gegensatz zwischen via moderna und antiqua an deut-
schen Universitäten längst bestand. Um so mehr muß es auf-
fallen, daß diese in Deutschland übliche Bezeichnung in den bisher
bekannt gewordenen Pariser Streitakten nicht ein einziges Mal
vorkommt. Sollten etwa auch sachlich die Gegensätze hier und
dort nicht genau dieselben sein ?4 Darüber wird erst der weitere
Verlauf unserer Untersuchung Klarheit bringen. Wichtig ist aber
hier schon die Beobachtung, daß den Anlaß zum Ausbruch des
Streites in Paris nicht eine Auseinandersetzung der Artistenschalen,
sondern eine theologische Streitfrage bildet. Wenigstens führen die
Nominalisten den Ausbruch des offenen Kampfes darauf zurück.
In dem Streit der Löwener Theologen de juturis contingentibus,
der sich um eine Spezialfrage bewegte, die zwischen Okkamisten
und Thomisten seit langem strittig war5, hatte die Löwener Uni-
1 Denkschrift von 1473: a 20 annis; entsprechend Edikt Ludwigs XI.:
1473, jan. 13, bei Bulaeus V, 707.
2 Und zwar ganz unbefangen (s. o. p. 31, N. 3). Das beweisen auch die
bei Prantl aufgezählten Titel in Frankreich erschienener Druckschriften von
Nominalisten; so auch die Physik des Mars. v. Inghen, Lyon 1518, secundum
nominalium cdam. Benary 49, N. 1 hat ganz Recht, diese Tatsachen mit
Prantls Hypothese, nominales sei durchaus und überall ein Schimpfname
gewesen, unvereinbar zu finden. In Heidelberg allerdings muß die Bezeich-
nung um 1499 einen verächtlichen Beigeschmack gehabt haben. Vgl. darüber
unten S. 76, N. 3.
3 Betr. Lehren des mag. Joh. Fabri, 1465, märz 19, Bulaeus V, 678.
4 Die Tatsache, daß der vielgenannte Heynlin vom Stein, der schon
1464 die via antiqua in Basel aufgebracht haben soll, 1473 in Paris auf seiten
der „Realisten“ steht, brauchte an sich noch nicht zu der Folgerung zu zwin-
gen, via antiqua und Pariser Realismus sei genau dasselbe gewesen.
5 Es handelt sich um den Streit zwischen dem Löwener thomistisch-
realistischen Artistenmagister Petrus de Rivo und dem dortigen okkamisti-
schen Theologen Henricus de Zomeren über die Frage, ob auch zukünftige
Zufallsereignisse in der göttlichen Voraussicht enthalten seien. Das war ein
von altersher beliebter Zankapfel zwischen Thomisten und Okkamisten:
Okkam stellte an diesem Punkte einen Widerspruch fest, wie er es liebte,
Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., philos.-hist. Kl. 1922. 7. Abh.
S