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Ritter, Gerhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 7. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 2: Via antiqua und via moderna auf den deutschen Universitäten des XV. Jahrhunderts — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38041#0034
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34

Gerhard Ritter:

versität die Pariser Theologen um ein Gutachten angegangen. Die
Pariser Okkamisten hatten zwar verhindert, daß die Antwort der
Fakultät einstimmig ausfiel; doch hatten sich 24 Pariser „Rea-
listen“ zugunsten der thomistisch-aristotelischen Lehrmeinung er-
klärt (1471); als diese dennoch zwei Jahre später in einem Prozeß
vor der Kurie für ketzerisch erklärt wurde, waren auch die Pariser
„Realisten“ öffentlich blößgestellt, und aus Rache — so behaupten
ihre nominalistischen Gegner —1 unternahmen sie nun einen Vor-
stoß in der entgegengesetzten Richtung. Es gelang ihnen, den
König durch Vermittlung seines Beichtvaters Joh. Boucard davon
zu überzeugen, daß der unleugbare Verfall der Pariser schola-
stischen Studien wesentlich auf Rechnung der nominalistischen
Neuerungen zu setzen sei, die ein Abweichen von altem Brauch
und Herkommen bedeuteten und erst seit 20 Jahren auf gekommen

zwischen der veritas fidei, die jede Einschränkung der göttlichen Voraussicht
und Willkür leugnen, und der aristotelischen Philosophie, die logische Ein-
wände gegen diese Unbeschränktheit erheben müsse. Für die Okkamisten bot
sich hier eine günstige Gelegenheit, den strengeren Aristotelismus ihrer Gegner
als ketzerisch zu verdächtigen; verfänglich war z. B. die Fragestellung, ob
Christus in streng logischem Sinne die „Wahrheit“ gesagt habe, als er dem
Petrus seine künftige Verleugnung des Meisters vor dem dritten Hahnenschrei
voraussagte ? In der Tat haben sich scholastische Kampfhähne dieser Argu-
mentationen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert immer wieder bedient (vgl.
Prantl III, 418, N. 1039 — Okkam; IV, 98, N. 387 — Marsilius von
Inghen; IV, 259 — R. Caubraith), und die Löwener Theologen haben damit
noch 1586 gegen den Neuthomismus der spanischen Jesuiten gestritten. Vgl.
die ausführliche Darstellung der Löwener Streitigkeiten durch J. Laminne,
Bulletins de la Classe des lettres de l’Acad. royale de Belgique 1906, nr. 8,
377 — 438; die zugehörigen Universitätsakten publ. von P. Fredericq, ibid.
1905, Nr. 1, p. 11 ff.; die Streitschriften bei Baluze, 1. c. und Duplessis
d’Argentre, Coli, iudic. de novis erroribus, Paris 1728, I, 2, p. 286ff. Für
unsere Fragestellung ist die Geschichte des ganzen Streites, der von 1446 — 77
andauerte, unergiebig, da er sich nur um das genannte theologische Einzel-
problem dreht, ohne die tieferen philosophischen Gegensätze aufzurühren.
H. Zomeren Avar offenbar ein streitsüchtiger outsider, der zwar in dieser Einzel-
frage einen Teil seiner theologischen Kollegen auf seine Seite zog, im übrigen
aber in Löwen wenig Anhang besaß. Die Universität hatte sich (ähnlich wie
Köln) von Anfang an streng auf den „Realismus“ festgelegt. Schon die Tat-
sache, daß P. de Rivo kein Bedenken trug, sich für seine Lehrmeinung auf den
vorokkamistischen Nominalisten Petrus Aureoli zu berufen (Fredericq 1. c.
p. 51), sollte davor warnen, die Bedeutung dieser Zänkereien für die Geschichte
des Wegestreites zu überschätzen.
1 In der gen. Denkschrift von 1473. Die Gutachten der 24 Pariser
Realisten s. ibid. sogleich anschließend.
 
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