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Gerhard Ritter:
gänzlich veraltet angesichts der okkamistischen Entdeckung mathe-
matisch formulierbarer Regeln1. Ein ausgesprochener Vertreter der
via antiqua in Tübingen, Konrad Summenhart, wendet die Lehre
der Okkamisten vom impetus bewegter Körper schulgerecht auf
den Fall an, offenbar ohne sich ihrer Herkunft aus dem andern
Lager überhaupt bewußt zu sein2. Petrus Tartaretus bezeugt
ausdrücklich, daß die Lehre vom impetus Gemeingut fast aller
Philosophen sei und übernimmt selbst die Lehre des Marsilius von
Inghen von der sukzessiven Übertragung des impetus auf die ein-
zelnen Teile des geschleuderten Geschosses, ohne deren Urheber zu
nennen (und wohl auch zu kennen)3. Ganz rückständig, nämlich
streng aristotelisch-thomistisch, ist die Darstellung der Bewegung ge-
schleuderter Projektile hei dem Thomisten Joh. Versor4, dessen
naturphilosophische Schriften5 auch sonst nicht eine Spur selbstän-
digen Nachdenkens über ihren Gegenstand erkennen lassen. Ich
vermag überhaupt nicht zu erraten, wo und wie sich denn eigent-
lich der von Hermelink so laut gerühmte Eifer der via antiqua für
die Naturphilosophie (er soll ja geradezu „einen Fortschritt in der
Geschichte der Kultur“ hervorgerufen haben!) geäußert haben
könnte. Alles, was mir an naturphilosophischen Schriften dieser
Schule zu Gesicht gekommen ist, erschöpft sich in sklavischer Kom-
mentierung des Aristoteles nach Thomas bzw. Duns Skotus, besten-
falls unter Ausnutzung der „modernen“ Literatur. Und gelegent-
lich stößt man dann auf solche Äußerungen wie die des Skotisten
Dorrellus, daß die naturwissenschaftliche Bildung nur in gerin-
gem Maße für den Theologen notwendig sei und daß ein kurzer,
vereinfachender Abriß hierfür durchaus genüge6 — Äußerungen,
die dem Bestreben der spätmittelalterlichen Theologie nach Selbst-
reinigung von überflüssigen philosophischen Spekulationen jeden-
falls besser entsprechen, als die angeblich enorme Verstärkung
naturwissenschaftlicher Interessen7.
1 Duhem 1. c.III 97ff. 2 Ibid.; Hermelink, Theol. Fak.160 vermochte
diesen Sachverhalt noch nicht zu übersehen. 3 Clarissima . . . totius phi-
losophiae [naturalis] necnon metaphysice Aristotelis . . . expositio. 1506, s. 1.
Nie. Wolff. (U. B. Heidelberg) — fol. 65, d: Proiecta moventur a virtute ipsis
impressa a proiciente, quam, aliqui communiter vocant impetum . . . et in isto modo
concordant fere omnes philosophi. 4 Quaestiones super 8 libros physicorum.
Coloniae 1489, vorletzt1 quaestio. 5 Hain 16047 (U. B. Heidelberg). 6 Cur-
sus philosophie naturalis secundum viam . . . Scoti. Basel 1494 (pro doctoribus
iheologicis compendium). Pars I (mathematica) Einleitung (U. B. Heidelberg).
7 Ganz anders zu beurteilen ist natürlich ein Werk wie die naturphilo-
Gerhard Ritter:
gänzlich veraltet angesichts der okkamistischen Entdeckung mathe-
matisch formulierbarer Regeln1. Ein ausgesprochener Vertreter der
via antiqua in Tübingen, Konrad Summenhart, wendet die Lehre
der Okkamisten vom impetus bewegter Körper schulgerecht auf
den Fall an, offenbar ohne sich ihrer Herkunft aus dem andern
Lager überhaupt bewußt zu sein2. Petrus Tartaretus bezeugt
ausdrücklich, daß die Lehre vom impetus Gemeingut fast aller
Philosophen sei und übernimmt selbst die Lehre des Marsilius von
Inghen von der sukzessiven Übertragung des impetus auf die ein-
zelnen Teile des geschleuderten Geschosses, ohne deren Urheber zu
nennen (und wohl auch zu kennen)3. Ganz rückständig, nämlich
streng aristotelisch-thomistisch, ist die Darstellung der Bewegung ge-
schleuderter Projektile hei dem Thomisten Joh. Versor4, dessen
naturphilosophische Schriften5 auch sonst nicht eine Spur selbstän-
digen Nachdenkens über ihren Gegenstand erkennen lassen. Ich
vermag überhaupt nicht zu erraten, wo und wie sich denn eigent-
lich der von Hermelink so laut gerühmte Eifer der via antiqua für
die Naturphilosophie (er soll ja geradezu „einen Fortschritt in der
Geschichte der Kultur“ hervorgerufen haben!) geäußert haben
könnte. Alles, was mir an naturphilosophischen Schriften dieser
Schule zu Gesicht gekommen ist, erschöpft sich in sklavischer Kom-
mentierung des Aristoteles nach Thomas bzw. Duns Skotus, besten-
falls unter Ausnutzung der „modernen“ Literatur. Und gelegent-
lich stößt man dann auf solche Äußerungen wie die des Skotisten
Dorrellus, daß die naturwissenschaftliche Bildung nur in gerin-
gem Maße für den Theologen notwendig sei und daß ein kurzer,
vereinfachender Abriß hierfür durchaus genüge6 — Äußerungen,
die dem Bestreben der spätmittelalterlichen Theologie nach Selbst-
reinigung von überflüssigen philosophischen Spekulationen jeden-
falls besser entsprechen, als die angeblich enorme Verstärkung
naturwissenschaftlicher Interessen7.
1 Duhem 1. c.III 97ff. 2 Ibid.; Hermelink, Theol. Fak.160 vermochte
diesen Sachverhalt noch nicht zu übersehen. 3 Clarissima . . . totius phi-
losophiae [naturalis] necnon metaphysice Aristotelis . . . expositio. 1506, s. 1.
Nie. Wolff. (U. B. Heidelberg) — fol. 65, d: Proiecta moventur a virtute ipsis
impressa a proiciente, quam, aliqui communiter vocant impetum . . . et in isto modo
concordant fere omnes philosophi. 4 Quaestiones super 8 libros physicorum.
Coloniae 1489, vorletzt1 quaestio. 5 Hain 16047 (U. B. Heidelberg). 6 Cur-
sus philosophie naturalis secundum viam . . . Scoti. Basel 1494 (pro doctoribus
iheologicis compendium). Pars I (mathematica) Einleitung (U. B. Heidelberg).
7 Ganz anders zu beurteilen ist natürlich ein Werk wie die naturphilo-