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Ritter, Gerhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 7. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 2: Via antiqua und via moderna auf den deutschen Universitäten des XV. Jahrhunderts — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38041#0095
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Studien zur Spätscholastik. II.

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hatte, wirkte unablässig weiter bis ans Ende des Mittelalters, ob-
schon Okkams Schüler und Nachfolger es nicht wagten, den Weg
zu Ende zu gehen, auf den er sie hingewiesen hatte. Sie wagten
nicht die radikale Scheidung von Glauben und Wissen durchzu-
führen, die er angebahnt hatte, wagten auch nicht, den Geltungs-
bereich der metaphysischen, mit rein logischen Hilfsmitteln durch-
geführten Spekulation in dem Maße einzuschränken, wie er es er-
möglicht und selbst versucht hatte. Man begreift ihre Zurück-
haltung. Hätten sie es gewagt — der Boden, auf dem ihre ganze
Wissenschaft ruhte, wäre ihnen unter den Füßen weggesunken. Auf
welchem Grunde sollten sie bauen ? Sollten sie als Theologen blind
der mystischen Eingebung oder dem positiven Inhalt der biblischen
Offenbarung vertrauen? Sollten sie als Philosophen und Natur-
forscher sich auf die Wahrnehmung der Sinne verlassen, da noch
alle Methoden solcher Erfahrungserkenntnis fehlten, da die Seele
des Zeitalters noch ganz im Banne der religiösen Probleme stand ?
Es wäre die Revolution der geistigen Fundamente der mittelalter-
lichen Kirche gewesen.
Als nun diese Revolution nicht eintrat, erlahmte doch gleich-
zeitig der Antrieb zur philosophischen Systembildung großen Stils,
wie er jene Kultur in den Zeiten ihrer Blüte mit so unvergleich-
lichem Schwung erfüllt hatte. Die Scholastik begann von innen
heraus zu verwelken. Die ganze akademische Literatur des 14. Jahr-
hunderts ist erfüllt von dem Geiste eines Epigonentums, das in der
Beschwörung großer Schatten aus der Vergangenheit sein einziges
Heil sieht. Man verzichtet auf originale Lösungsversuche der her-
kömmlichen Probleme, selbst in dem relativ bescheidenen Maße
von Originalität, wie sie die Schulen des vorigen Jahrhunderts noch
zustande gebracht hatten. Man begnügt sich bewußt damit, die
Meinungen und Argumente eines der großen Schulhäupter fleißig
zu exzerpieren und zu handlichen Kompendien zu verarbeiten1.
1 Ein Musterbeispiel dieser Literatur bietet der Franziskaner Stephanus
Brulifer: Super scripta scti. Bonaventure Directorium, Basel 1507 (Hdbg.
U. B.); formalitatum textus, ibid. 1507 — der sich streng an seine großen
Ordensgenossen Bonaventura bzw. Duns Skotus anschließt. Ebenso unselb-
ständig wirken die Schriften des Pariser Skotisten P. Tartaretus (In sum-
mulas P. Hispani, Super textu logicae Aristotelis, Exposicio tocius philosophiae),
der die Skotuszitate massenweise häuft. Aber auch Dorbellus, Joh. Versor,
Lambertus de Monte, und von den „Modernen“ z. B. G. Biel lassen keinen
Zweifel, daß sie sich nur als Nachahmer auffassen. — Besonders lehrreich ist
die Vorrede des „Modernen“ Joh. Parreudt (textus veteris artis, Hagenau
 
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