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Gerhard Ritter:
Kein Wunder, wenn auch die Produktion und insbesondere der
Druck logischer und physikalischer Lehrbücher ganz unvergleich-
lich größeren Umfang annahm, als die Herstellung von Kommen-
taren zur Ethik und Metaphysik des Aristoteles. Der Absatz mußte
ja weit größer sein! Daß diese Produktion sich freilich überhaupt
auf Lehr- und Handbücher beschränkte — dafür liegen die Gründe
natürlich tiefer, als an der Oberfläche des akademischen Lebens.
Die Universitäten des ausgehenden Mittelalters haben selber
den unaufhaltsamen Verfall schmerzlich empfunden. Ihre Kom-
pendien stöhnen unter der Last der literarischen Tradition, die im
Laufe der Jahrhunderte unübersehbare Massen von „Autoritäten“,
Meinungen und Kontroversen aufgetürmt hat, deren ewiges Wieder-
käuen, Gegenüberstellen und Verarbeiten zu neuen (und im Grunde
doch alten) „Konklusionen“ ein endloses Geschäft geworden ist.
Aus solchen Stoßseufzern kommt der Thomist Petrus Nigri1 zu
dem Schlüsse, daß die Rettung der Philosophie nur in der strengen
und einfachen Rückkehr zum System eines großen Meisters, eben
des Thomas, zu finden sei: was könne es nützen, ewig die Meinung
des Vorgängers umzukehren und so aus alten Rüchern immerfort
neue zu machen ? Offenbar traf er damit die Meinung der Zeit und
insbesondere seiner Parteigenossen vortrefflich. Da, wo die großen
Systeme der Hochscholastik noch unverändert weiter gepflegt wur-
den — wie in Köln und Löwen — war man seit langem gewöhnt,
alles Übel der neuen Zeit auf die verdammten Neuerungen des
großen Unruhstifters Wilhelm Okkam zu schieben. War es nicht
ganz deutlich, daß dieser Nominalismus von Hause aus, seinem
innersten Wesen nach, den Todfeind aller echten metaphy-
sisch-theologischen Spekulation großen Stiles darstellte, wie die
Väter der großen scholastischen Jahrhunderte sie gepflegt hatten?
Mochten diese Okkamisten noch so oft und noch so laut die Harm-
losigkeit ihrer nominalistischen Erkenntnistheorie beteuern: ihnen
war einmal nicht zu trauen! In diesen halbromantischen Stim-
mungen liegen offenbar die Wurzeln des Streites, dem wir hier
nachgehen. Einmal entbrannt, loderte er dann unaufhaltsam von
selber weiter. Persönliche Reibereien, Gegensätze der Schulen und
Cliquen, wie sie mit dem akademischen Zunftbetriebe einmal un-
zertrennbar verbunden scheinen, die übliche dogmatische Ver-
härtung einander widersprechender Meinungen, deren Kontrast alt
und herkömmlich geworden ist — alle diese Begleiterscheinungen
1 Clipeus Thomistarum, Venetiis 1504, fol. 2L
Gerhard Ritter:
Kein Wunder, wenn auch die Produktion und insbesondere der
Druck logischer und physikalischer Lehrbücher ganz unvergleich-
lich größeren Umfang annahm, als die Herstellung von Kommen-
taren zur Ethik und Metaphysik des Aristoteles. Der Absatz mußte
ja weit größer sein! Daß diese Produktion sich freilich überhaupt
auf Lehr- und Handbücher beschränkte — dafür liegen die Gründe
natürlich tiefer, als an der Oberfläche des akademischen Lebens.
Die Universitäten des ausgehenden Mittelalters haben selber
den unaufhaltsamen Verfall schmerzlich empfunden. Ihre Kom-
pendien stöhnen unter der Last der literarischen Tradition, die im
Laufe der Jahrhunderte unübersehbare Massen von „Autoritäten“,
Meinungen und Kontroversen aufgetürmt hat, deren ewiges Wieder-
käuen, Gegenüberstellen und Verarbeiten zu neuen (und im Grunde
doch alten) „Konklusionen“ ein endloses Geschäft geworden ist.
Aus solchen Stoßseufzern kommt der Thomist Petrus Nigri1 zu
dem Schlüsse, daß die Rettung der Philosophie nur in der strengen
und einfachen Rückkehr zum System eines großen Meisters, eben
des Thomas, zu finden sei: was könne es nützen, ewig die Meinung
des Vorgängers umzukehren und so aus alten Rüchern immerfort
neue zu machen ? Offenbar traf er damit die Meinung der Zeit und
insbesondere seiner Parteigenossen vortrefflich. Da, wo die großen
Systeme der Hochscholastik noch unverändert weiter gepflegt wur-
den — wie in Köln und Löwen — war man seit langem gewöhnt,
alles Übel der neuen Zeit auf die verdammten Neuerungen des
großen Unruhstifters Wilhelm Okkam zu schieben. War es nicht
ganz deutlich, daß dieser Nominalismus von Hause aus, seinem
innersten Wesen nach, den Todfeind aller echten metaphy-
sisch-theologischen Spekulation großen Stiles darstellte, wie die
Väter der großen scholastischen Jahrhunderte sie gepflegt hatten?
Mochten diese Okkamisten noch so oft und noch so laut die Harm-
losigkeit ihrer nominalistischen Erkenntnistheorie beteuern: ihnen
war einmal nicht zu trauen! In diesen halbromantischen Stim-
mungen liegen offenbar die Wurzeln des Streites, dem wir hier
nachgehen. Einmal entbrannt, loderte er dann unaufhaltsam von
selber weiter. Persönliche Reibereien, Gegensätze der Schulen und
Cliquen, wie sie mit dem akademischen Zunftbetriebe einmal un-
zertrennbar verbunden scheinen, die übliche dogmatische Ver-
härtung einander widersprechender Meinungen, deren Kontrast alt
und herkömmlich geworden ist — alle diese Begleiterscheinungen
1 Clipeus Thomistarum, Venetiis 1504, fol. 2L